56 Prozent stützen die SPD-Spitze
Mit einer denkbar knappen Mehrheit von 362 gegen 279 Stimmen ist der SPD-Sonderparteitag dem Votum des Parteivorstands für weitere Verhandlungen mit der Union über eine Regierungsbildung gefolgt.
Bonn. Am Ende ist Heiko Maas das, was er im Saal sieht, zu knapp. „Ich sehe eine Tendenz, aber kein eindeutiges Ergebnis“, sagt der amtierende Justizminister über die Abstimmung des SPD-Bundesparteitags im Bonner World Conference Center. Maas lässt noch einmal die Hände heben und nachzählen. Nach fünf Stunden Debatte, ob die SPD in Verhandlungen über eine große Koalition einsteigt, stimmen 392 Delegierte dafür, 279 dagegen und einer enthält sich. Damit ist es dem Parteivorsitzenden und 100-Prozent-Kanzlerkandidaten Martin Schulz mit Ach und Krach gelungen, 56 Prozent der 642 Delegierten für seinen Kurs von Hü nach Hott bei der Stange zu halten.
Dabei beginnt der Tag in Bonn gar nicht so schlecht. Gut, dass die SPD Malu Dreyer hat. Für die Sozialdemokraten ist Malu Dreyer derzeit das, was Margot Käßmann einst für evangelische Kirchentage war: eine Lichtgestalt in finsterer Gegenwart, eine Leuchte im Dunkel der Niederungen. Der man verzeiht, dass sie im Dezember noch für eine Minderheitsregierung plädierte, die sie heute als Illusion abtut und nun stattdessen für die große Koalition wirbt. Und den 600 Delegierten klar macht, worüber sie eigentlich entscheiden: „Verhandlungen über eine große Koalition oder demnächst Neuwahlen.“ Und im Laufe des Parteitags wird jedem klar, wer die SPD nicht in Neuwahlen führen kann, wenn ihm dieser Parteitag nicht einmal das Votum gibt, mit der Union über eine große Koalition zu verhandeln. Gut, dass er wenigstens das nicht selbst sagen muss, sondern dafür Malu Dreyer hat.
Martin Schulz, SPD-Chef
Martin Schulz tritt mit 70 Manuskriptseiten ans Pult, die Nerven offensichtlich bis zum Zerreißen angespannt. 70 Seiten sind zehn Seiten mehr als am 7. Dezember in Berlin, als er 81,9 Prozent der Delegierten überzeugte, ihn trotz der krachenden Niederlage als Parteivorsitzenden wiederzuwählen. Aber 81,9 Prozent sind eine Zustimmung, von der Schulz weiß, dass nicht einmal ein Wunder sie ihm hier in Bonn bescheren könnte.
Immerhin: Am Abend vorher an der Sky-Bar im benachbarten Marriott-Hotel ist die Hoffnung noch nicht im letzten Drink gestorben. Wer Sorgen hat, hat auch Likör, wusste schon Wilhelm Busch: Mitglieder des engeren Bundesvorstands und Landesfürsten, die Schulz nicht hängenlassen können, sind verhalten optimistisch. Aber auch nicht mehr. Seit dem Abschluss der Sondierungsgespräche hat Schulz Wasserstandsmeldungen an der Basis gesammelt. Und wohl auch nachgefragt, was man vor Ort tun kann, um bei der Meinungsbildung in seinem Sinne zu helfen. Die Meldungen einzelner Landesverbände, tapfer gegen die Koalition stimmen zu wollen, müssten Schulz eigentlich nicht weiter sorgen. Aber aus seiner Position sieht der „Zwergenaufstand“ der Jusos und des linken Parteiflügels weitaus größer aus, als er in Wahrheit ist.
Anders als sonst, weicht Schulz zumindest satzweise von seinem Manuskript ab, an dem bis zur letzten Minute gefeilt worden ist. Viel Neues zu sagen hat der Vorsitzende nicht, wie schon so häufig arbeitet er sich ab. Diesmal an den einzelnen Erfolgen der Sondierung. Es ist der Versuch, in der Sache zu überzeugen, wo es an der Basis um ganz etwas anderes geht. Oder wie es der Juso-Zwergenaufstandsführer Kevin Kühnert in seiner Replik sehr nüchtern formuliert: „Die wahnwitzigen Wendungen und Kehrtwenden unserer Partei seit der Bundestagswahl haben noch mal mehr Vertrauen gekostet.“
Kevin Kühnert, Juso-Chef
Und: Die SPD habe sich schon in der großen Koalition klein gemacht, und das tue sie auch jetzt wieder. Und das Ergebnis des Tages nimmt er ebenfalls schon vorweg: „Wie immer wir uns entscheiden, es wird weh tun.“ Was auch daran liegt, dass die meisten der 600 Delegierten sich längst entschieden haben, die rund 100 angemeldeten Redebeiträge kaum noch einen zum Meinungswechsel bewegen werden. Was ja nur den Groko-Befürwortern gelingen muss, weil das Verfahren die Gegner bevorzugt.
Man kann Martin Schulz am Gesicht ablesen, dass er zu spät verstanden hat, wieviel Macht über die Partei, ihre Position in Regierung oder Opposition und nicht zuletzt seine persönliche Zukunft er dem Zufall von Stimmungen mit seiner Entscheidung am Wahlabend überantwortet hat, in die Opposition zu wollen. Die Rede, die Schulz eigentlich halten müsste, hält Andrea Nahles, ihre letzten Sätze brüllt sie fast: „Das Einzige was ich verspreche: Wir werden verhandeln, bis es quietscht, und wir werden weitere gute Sachen rausholen, und dafür lohnt es sich, heute mit Ja zu stimmen.“ Sie räumt ein: In der Vergangenheit sei man nicht gut genug gewesen, da hätten die Kritiker schon recht. „Aber wir geben doch die SPD nicht auf“, ruft Nahles, und nah an den Wuttränen, zum inneren Zustand der Partei: „Was hat das mit der Merkel, dem doofen Dobrindt und den anderen zu tun?“
Niemand bekommt während der Debatte mehr Applaus als Andrea Nahles, und sie bekommt ihn auch von denen, die nicht ihrer Meinung sind. Die sind zum Teil mit Zwergenmützen in das Plenum gekommen und ahnen im Laufe der Debatte, dass sie gegen Interessenslagen aus den Landesverbänden nicht wirklich eine Chance haben. Hessen läuft sich für die Landtagswahl warm, Bayern auch. Die Landesverbände der Groko-Sondierer werden ihren Unterhändlern zumindest nicht mit Mehrheit in den Rücken fallen. Obwohl Schulz am Ende den gleichen Fehler macht wie schon beim Berliner Parteitag. Nachdem alles gesagt ist, ergreift er noch einmal das Wort.
Martin Schulz bettelt. „Die Republik schaut auf uns“, sagt er. Ein Schlüsselmoment in der Partei. Und egal wie das Ergebnis ausfalle, sei das ein stolzer Moment. Eine Partei müsse Toleranz, Offenheit und Respekt auch nach innen repräsentieren. Die Argumente seien ausgetauscht. Er sei denen dankbar, die noch einmal versucht hätten, eine Brücke zu bauen, nämlich dass man weiter verhandeln werde. Jetzt, wo der Augenblick der Entscheidung gekommen sei, werbe er noch einmal, „dass Ihr uns das Mandat und Vertrauen gebt, eine Koalitionsverhandlung aufzunehmen und eine Regierung zu bilden“. Schuld daran sei das Scheitern der Jamaika-Sondierer. Dieser Lage müsse man sich stellen. Man müsse nicht um jeden Preis regieren, aber man dürfe auch nicht um jeden Preis nicht regieren wollen. Johannes Rau habe die These vertreten, ein Prozent von etwas ist mehr als 100 Prozent von nichts. Es sei der mutigere Weg, jetzt in eine Regierung zu gehen. Und mit fast wegbrechender Stimme sagt Schulz: „Gebt uns den Weg frei, Koalitionsverhandlungen aufzunehmen.“
Mit der Abstimmung könnte die Sache nun durch sein. Bei der SPD ist sie das nicht. Am Ende der Verhandlung haben nun die 440 000 Partei-Mitglieder das letzte Wort. Auch über Schulz.