Analyse: Die Nichtwähler sind die stärkste „Partei“

29,2 Prozent der Wahlberechtigten verweigerten am Sonntag ihre Stimme. Ein Alarmsignal.

Düsseldorf. "Sie machen an einem Wahlsonntag einen Ausflug. Sie haben viel Spaß, das Wetter ist traumhaft schön, aber die Wahllokale schließen um 18 Uhr. Beenden Sie den Ausflug, um noch wählen zu gehen, oder ist Ihnen das nicht so wichtig?" Diese Frage stellte das Allensbach Institut im Sommer Wahlberechtigten. 39 Prozent sagten, sie würden den Ausflug abbrechen. 1998 hätten das noch 59 Prozent getan.

Belegt wird der Trend durch den historischen Tiefstand der Wahlbeteiligung bei einer Bundestagswahl: Nur 70,8 Prozent machten am Sonntag mit. 2005waren es noch 77,7 Prozent. Im Rekordjahr 1972 gingen 91,1Prozent zu den Urnen. Damals gab es ein zentrales Thema: die Ostpolitik. Willy Brandt setzte sich gegen Rainer Barzel durch, die SPD errang 45,8, die Union 44,9 Prozent.

Mittlerweile sind die 18,1 Millionen Nichtwähler mit ihrem Anteil von 29,2 Prozent stärkste "Partei". Zwar haben CDU und CSU zusammen 33,8 Prozent erzielt. Doch dieser Wert bezieht sich auf die abgegebenen gültigen Stimmen. Bezogen auf alle Wahlberechtigten (gut 62 Millionen) zogen die Unionsparteien nur 27,43 Prozent auf sich.

Was sind die Gründe für die wachsende Wahlenthaltung? Infratest dimap hat 995 Menschen befragt, die schon 2005 nicht gewählt hatten. Bezogen auf ihre aktuelle Einstellung antworteten 71 Prozent, dass der Wahlkampf sie nicht anspreche. Sie fänden Auftreten und Inhalte der Parteien nicht überzeugend. Nun lässt sich einwenden, dass sich in anderen Ländern noch mehr Menschen verweigern (siehe Grafik). Doch werden bei dieser Sichtweise offensichtliche Alarmsignale der Wahlenthaltung übergangen: Parteien- und Politikverdrossenheit, soziale und wirtschaftliche Unzufriedenheit. Dass Menschen das Vertrauen verloren haben, noch etwas bewegen zu können.

Hinzu kommt, dass die Große Koalition den offenen Meinungsstreit eher behindert hat. Dass sich Konturen verwischten. Dass manch einer sich fragte, warum er "seine Partei" eigentlich noch wählen sollte. Am stärksten spürte die SPD diese Haltung. Nach der Analyse von Infratest dimap kamen mehr als 1,6 Millionen der Nichtwähler aus dem SPD-Lager (920000 aus dem Unionslager).

Insofern dürfte es künftiger Wahlbeteiligung nützen, wenn die Linien zwischen Regierung und Opposition klarer verlaufen. Doch ob hier Interesse oder gar Leidenschaft geweckt werden kann, liegt vor allem an den Akteuren. In der Infratest-dimap-Umfrage unter Nichtwählern sagten mehr als vier Fünftel, dass Politiker ehrlicher und inhaltlich überzeugender sein müssten. Werden sie dem nicht gerecht und sinkt die Wahlbeteiligung weiter, wird das politische System immer weniger legitimiert sein. Demokrativerlust und Radikalisierung drohen. Hier mit dem Ruf nach einer Wahlpflicht zu reagieren, hieße, die Ursachen zu ignorieren.