Berlin. Er hat sich einfach an die Spitze der Bewegung gesetzt. Bevor er zum Fraktionschef gewählt wird, schenkt Frank-Walter Steinmeier den 146 SPD-Abgeordneten reinen Wein ein. Es sei sein Vorschlag, "dass wir die Neuordnung der Partei auf mehreren Schultern verteilen".
Damit war klar: Steinmeier strebt nicht den Doppelvorsitz von Fraktion und Partei an. Dazu hätte es einer Kampfkandidatur bedurft. Denn: Zuvor hatten sich Sigmar Gabriel und Andrea Nahles arrangiert. Er soll Parteichef, sie Generalsekretärin werden. Sie wollte den Job schon 2005 und ist gescheitert. Nun versucht sie es im zweiten Anlauf. Nur einer sträubt sich: Franz Müntefering. Vor der NRW-Landesgruppe pochte der scheidende SPD-Chef gestern noch auf seinen Zeitplan und warnte vor einer Lösung "im Hinterzimmer". Andere wussten die Zeichen besser zu deuten. Generalsekretär Hubertus Heil und Parteivize Peer Steinbrück kündigten ihren Rückzug an.
Nun wird man Müntefering allenfalls der Form halber gerecht: In den nächsten Wochen wird die SPD-Führung einen Vorschlag machen. Gewählt wird die neue Spitze von einem Parteitag erst Mitte November in Dresden. Aber so viel Zeit wollten sich Nahles und Gabriel nicht lassen.
Es war Olaf Scholz, der sie zusammenbrachte, dazu den Berliner Bürgermeister Klaus Wowereit. Sie sind die vier bestimmenden Figuren. Scholz und Wowereit sollen SPD-Vizechefs werden. Dazu gestellt sich die Chefin der NRW-SPD, Hannelore Kraft. Die Landespartei ist ein Machtfaktor und steht 2010 vor einer Wahl; zwei Gründe, Kraft zu stärken.
Steinmeier folgte der Stimmung. Kritisiert hatte ihn im Präsidium zwar keiner. Aber der Mann hat aufmerksam zugehört. Bei der Analyse der SPD-Niederlage fielen fünf Stichworte, die alle mit ihm zu tun haben: Hartz-Gesetze, ALG I, Rente mit 67, der Einsatz in Afghanistan, die Abgrenzung zur Linkspartei. Er wolle helfen. Aber man müsse ihn helfen lassen, warf der Spitzenkandidat dünnhäutig in die Runde hinein. Es war keine Drohung mit Rücktritt. Doch der Verlauf der Sitzung am Montag gab ihm zu denken. Die SPD sehnt einen Kurswechsel herbei. Als er die Witterung bei der Fraktion übernahm und dort gestern dieselbe Stimmung spürte, da war Steinmeier sofort klar: Der Parteivorsitz ist für ihn nicht drin.
Steinmeier kann nur nahe bei sich sein, wenn er nicht die SPD-Politik der vergangenen elf Jahre dementieren muss. Die sind ein Teil seiner politischen Biografie. Gerade der Zwang zu einem Minimum an Kontinuität und Stabilität spricht für Steinmeier als Fraktionschef. Im Bundestag kann die SPD nicht alles in Bausch und Bogen verdammen, was sie in vier Jahren Großer Koalition beschlossen hat. Es ist eine paradoxe Situation: Was für Steinmeier als Fraktionschef spricht, wendet sich gegen ihn in der Frage des Parteivorsitzes.
Der Wunsch der Partei ist: ein Kurswechsel. Mutmaßlich ist das die Stimmung, die Steinmeier in Dresden unter den Delegierten des SPD-Parteitags antreffen wird. Er war unsicher und hat zwei Mal darüber geschlafen, ob er sich den Job wirklich antun soll. Es war eine Nacht zu viel. Da hatten Gabriel und Nahles schon erste Fakten geschaffen.