Flüchtlingsstrom in die Türkei vor IS reißt nicht ab
Istanbul/Berlin (dpa) - Angesichts des Vormarsches der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) bereitet sich die Türkei auf eine Massenflucht von Syrern vor.
Die Regierung in Ankara sprach am Montag von womöglich Hunderttausenden Menschen, die Schutz suchen könnten - abhängig von weiteren IS-Angriffen im Norden des Nachbarlandes. Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR vertrieben die Extremisten in der vor allem von Kurden bewohnten Grenzregion bislang 150 000 Menschen.
In den Händen einer IS-Splittergruppe im Norden Algeriens soll sich angeblich ein entführter französischer Tourist befinden. Die Jund al-Khilafa genannte Organisation drohe mit der Ermordung der Geisel, wenn Frankreich seine Militärschläge gegen die IS-Miliz im Irak nicht einstelle, berichteten französische Medien unter Berufung auf ein Video der Islamisten. Das Außenministerium in Paris bestätigte die Entführung. Ihr Hintergrund war demnach aber noch unklar. In der Gegend operieren sowohl Terrorgruppen als auch kriminelle Banden.
Der IS hat zum Mord an Menschen aus Ländern aufgerufen, die im Irak militärisch gegen die Miliz vorgehen. Frankreich fliegt seit Freitag Lufteinsätze gegen Stellungen der Extremisten in dem Land. Im Namen der IS-Terrormiliz waren bereits zwei US-Journalisten und ein britischer Entwicklungshelfer ermordet worden. Davon stellten die Terroristen Videos mit Enthauptungsszenen ins Internet.
Aus Angst vor den äußerst brutal vorgehenden Extremisten strömten nach Angaben des türkischen Vize-Ministerpräsidenten Numan Kurtulmus allein seit Freitag mehr als 130 000 Menschen aus Syrien über die Grenze in die Türkei. IS-Kämpfer rücken derzeit im Norden des Bürgerkriegslandes vor. Die Türkei hat nach Regierungsangaben bereits mehr als 1,3 Millionen Flüchtlinge vor allem aus Syrien aufgenommen.
Die Bundesregierung will europäische Staaten in die Pflicht nehmen, die von dem großen Flüchtlingsandrang noch kaum betroffen sind. Ein Sprecher des Innenministeriums kritisierte, dass „überhaupt nur 10 von 28 EU-Staaten Flüchtlinge in nennenswertem Umfang aufnehmen“. Dies müsse verbessert werden.
Die kurdische Enklave Ain al-Arab (Kurdisch: Kobane) war am Montag weiterhin von drei Seiten durch IS-Kämpfer eingeschlossen. Ein Sprecher der syrischen Kurden-Milizen namens Hogar Kamishili sagte aber, die kurdischen Kämpfer seien von einer Verteidigungs- in eine Angriffsstellung übergegangen. Sie versuchten nun, die Dörfer zu befreien, die der IS in der vergangenen Woche in der Umgebung von Ain Al-Arab eingenommen hatte. Er forderte die internationale Gemeinschaft zur Hilfe auf. Die humanitäre Lage in Ain Al-Arab verschlechtere sich durch die Belagerung und den Beschuss.
Die Terrormiliz IS kontrolliert in Syrien rund ein Drittel des Landes. Die nordsyrische Stadt Al-Rakka ist eine ihrer Hochburgen. Bei dem Vormarsch Mitte Juni auf das Nachbarland Irak eroberten die Dschihadisten dort mit Mossul die zweitgrößte Stadt des Landes sowie weitere Regionen im Osten und Norden. Ihre Eroberungen hat die IS-Miliz in einem selbst ernannten „Kalifat“ zusammengefasst.
Die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK rief alle Kurden zum Kampf gegen IS auf. „Jetzt ist die Zeit, unsere Ehre zu verteidigen“, zitierte die PKK-nahe Agentur Firat aus einer Mitteilung. „Der Widerstand sollte keine Grenze kennen.“ Die PKK warf der türkischen Regierung vor, den IS zu unterstützen.
Die Linke-Bundestagsabgeordnete Heike Hänsel erhob nach einem Besuch an der türkisch-syrischen Grenze ebenfalls Vorwürfe gegen die Regierung in Ankara. Sie teilte mit, die Grenze in Suruc gegenüber der Stadt Kobane sei am Sonntag zum Zeitpunkt ihres Aufenthaltes dort geschlossen gewesen.
Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth forderte im Deutschlandfunk eine verstärkte Aufnahme von Flüchtlingen. Regierungssprecher Steffen Seibert sagte, das deutsche Asylrecht könne zwar nicht alle Probleme der Welt lösen. „Wir können aber auch nicht so tun, als ginge uns das nichts an.“ Die Bundesregierung hält trotz des jüngsten Vormarsches von IS in Syrien an ihrer Linie fest, keine Waffen an Rebellengruppen in dem Bürgerkriegsland zu liefern.