Gerichtshof: Ukraine hat Timoschenko willkürlich in Haft genommen
Straßburg (dpa) - Ohrfeige für Kiew: Die Ukraine hat die Oppositionsführerin Julia Timoschenko nach Ansicht des Menschenrechts-Gerichtshofs zu Unrecht verhaftet.
Die Inhaftierung der Ex-Regierungschefin im August 2011 sei willkürlich gewesen, entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Timoschenko zeigte sich über das Urteil hoch erfreut. Regierungsgegner in der Ex-Sowjetrepublik sowie Europaparlamentarier forderten Präsident Viktor Janukowitsch auf, seine Erzrivalin umgehend freizulassen. Die Europäische Union und die Bundesregierung mahnten Reformen im zweitgrößten Flächenstaat Europas an.
Die Untersuchungshaft sei aus sachfremden Gründen erfolgt, entschied der EGMR. In der am Dienstag veröffentlichten Begründung deuten die Straßburger Richter damit an, dass sie politische Motive für die Festnahme vermuten. Das Urteil bedeutet aber nicht, dass die in Haft erkrankte Timoschenko automatisch freikommt. Die Umsetzung des Richterspruchs ist Sache der Ukraine. Die Entscheidung ist noch nicht rechtskräftig; Kiew kann die Verweisung an die Große Kammer des Gerichtshofs beantragen.
Die Ukraine kündigte an, die Entscheidung zu prüfen. Justizminister Alexander Larinowitsch sagte in einer erste Reaktion jedoch, er sehe keinen Grund für eine sofortige Freilassung.
„Der Europäische Gerichtshof hat mich faktisch als politische Gefangene anerkannt“, ließ hingegen Timoschenko über den Pressedienst ihrer Vaterlandspartei mitteilen. „Dieser Status ist für mich wertvoller und teurer als irgendwelche anderen Titel und Ehrungen.“ Ungeachtet ihrer Haft sei sie „nach dem Urteil des Gerichts bereits moralisch frei“. Verteidiger Sergej Wlassenko forderte, die Politikerin müsse politisch und juristisch rehabilitiert werden. Timoschenkos Tochter Jewgenija nannte das Urteil einen „Sieg“.
Timoschenko war im Oktober 2011 nach einem umstrittenen Verfahren wegen Amtsmissbrauchs zu sieben Jahren Haft und umgerechnet 137 Millionen Euro Schadenersatz verurteilt worden. Der heute 52-Jährigen wird vorgeworfen, ein für die Ukraine nachteiliges Abkommen über Gaslieferungen aus Russland abgeschlossen zu haben. Timoschenko war bereits am 5. August 2011 während des Prozesses in Untersuchungshaft genommen worden, wegen Missachtung des Gerichts.
Die Straßburger Richter verurteilten die Ukraine unter anderem wegen einer Verletzung des Menschenrechts auf Freiheit. Außerdem sei Artikel 18 der Konvention verletzt, der vor sachfremden Rechtseingriffen schützen soll. Dies legt nahe, dass die Richter von politischen Motiven ausgehen, auch wenn das im Urteil nicht ausdrücklich festgehalten wird.
Einen Verstoß gegen das Verbot von Folter und erniedrigender Behandlung stellte der EGMR allerdings nicht fest. Vor dem Gericht ist noch eine weitere Beschwerde Timoschenkos anhängig, in der sie unter anderem eine Verletzung des Rechts auf faires Verfahren rügt.
Bundesaußenminister Guido Westerwelle forderte die Regierung in Kiew nach dem Urteil zum Handeln auf. „Das bestätigt erneut, dass die Ukraine im Bereich von Justiz und Rechtsstaat noch immer Defizite hat, die angegangen werden müssen“, sagte er der Nachrichtenagentur dpa bei einem Besuch in Mosambik.
Auch die EU setzte sich für eine Justizreform in der früheren Sowjetrepublik ein. „Angesichts des heutigen Urteils fordern wir die ukrainischen Behörden auf, die Situation von Frau Timoschenko umfassend zu überprüfen“, teilten die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton und EU-Erweiterungskommissar Stefan Füle in Brüssel mit.
Der Generalsekretär des Europarates, Thorbjørn Jagland, betonte die Bedeutung des Gerichts. „In den vergangenen Jahren wollten viele etwas im Fall Timoschenko erreichen. Wir haben es jetzt getan. Wir haben dafür die Befugnis“, sagte Jagland. Die ukrainische Regierung habe ihm zugesichert, die Entscheidung aus Straßburg zu akzeptieren. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Europaparlaments, Elmar Brok (CDU), forderte die sofortige Freilassung Timoschenkos.
Der menschenrechtspolitische Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion, Volker Beck, erklärte: „Für ein Land wie die Ukraine, das sich Europa hin öffnen möchte, ist solch ein Umgang mit den eigenen Oppositionspolitikern ein Armutszeugnis.“ Die Ukraine führt seit Anfang 2013 den Vorsitz in der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE).