Urteil im Fall Timoschenko: „Ein Signal an die Welt“
Der Sieg von Oppositionsführerin Julia Timoschenko vor Gericht erhöht den Druck auf den Präsidenten.
Kiew. Julia Timoschenko (52) hat ihre persönliche Auferstehung vor Gericht gefeiert. Wenige Tage vor dem orthodoxen Osterfest in der Ukraine gewann die inhaftierte Oppositionsführerin erstmals einen Prozess gegen die Justizbehörden ihres Landes und damit auch gegen ihren politischen Erzrivalen, den autoritären Präsidenten Viktor Janukowitsch. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschied am Dienstag, dass die ehemalige Regierungschefin „willkürlich und aus sachfremden Motiven“ inhaftiert worden sei.
„Das ist ein entscheidendes Signal an die ukrainische Führung, an die EU und an die Welt“, sagte Timoschenkos Anwalt Sergei Wlasenko unserer Zeitung und betonte: „Janukowitsch kann nun nicht mehr damit argumentieren, dass die Haftstrafe das Resultat einer unabhängigen Rechtsprechung sei.“ Wlasenko forderte die sofortige Freilassung seiner Mandantin. Timoschenko verbüßt seit 2011 eine siebenjährige Gefängnisstrafe wegen angeblichen Amtsmissbrauchs.
Die EU und die USA bewerteten die Inhaftierung von Anfang an als politisch motiviert. Das sahen nun auch die sieben Straßburger Richter, darunter eine Ukrainerin, als erwiesen an. „Wir haben einstimmig entschieden, dass die Artikel 5 und 18 der Europäischen Menschenrechtskonvention verletzt wurden“, urteilte der EGMR. Artikel 5 garantiert das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Artikel 18 verbietet Rechtseinschränkungen aufgrund sachfremder und damit politischer Motive. Es ist ein offenes Geheimnis in Kiew, dass die ukrainische Justiz aus dem Präsidentenpalast heraus gelenkt wird.
Unmittelbare Auswirkungen auf Timoschenkos Lage hat der Richterspruch nicht. Der EGMR überwacht und bewertet zwar die nationale Rechtsprechung der Mitgliedsstaaten des Europarates, kann deren Urteile aber nicht korrigieren und somit nicht Timoschenkos Freilassung anordnen. Die ukrainischen Behörden wollen die Urteilsbegründung nun prüfen und gegebenenfalls Berufung vor der Großen Kammer des EGMR einlegen.
Timoschenko-Anwalt Wlasenko betonte, dass „ohnehin alles von Janukowitsch persönlich abhängt“. Dennoch weckt das Urteil neue Hoffnung im Lager der ukrainischen Opposition. Er rechne mit einer schnellen Begnadigung Timoschenkos noch vor dem EU-Osteuropa-Gipfel in Vilnius im November.
Bei dem Treffen in der litauischen Hauptstadt will die EU mit der Ukraine ein Abkommen über politische Assoziierung und freien Handel unterzeichnen. Brüssel macht allerdings demokratische Reformen in Kiew zur Voraussetzung für den Vertragsschluss. Dem Fall Timoschenko kommt in diesem Zusammenhang besondere Bedeutung zu.
Boxweltmeister Vitali Klitschko, der mit seiner proeuropäischen Partei Udar (Schlag) an der Seite der Oppositionsführerin steht, forderte Janukowitsch auf, „das politisch motivierte Urteil gegen Timoschenko zu korrigieren, sie umgehend freizulassen und damit ein klares Signal an die EU zu senden“.