Gewalt in der Türkei bremst EU-Beitrittsverhandlungen nicht
Luxemburg (dpa) - Für die Türkei rückt ein Neubeginn bei den Verhandlungen über einen EU-Beitritt näher. Trotz des gewaltsamen Vorgehens der türkischen Polizei gegen Demonstranten soll erstmals seit drei Jahren wieder ein neuer Themenbereich für Verhandlungen geöffnet werden.
Dies schlug Bundesaußenminister Guido Westerwelle am Montag bei einem Treffen mit seinen EU-Amtskollegen in Luxemburg vor. Nach diesem politischen Beschluss würden dann die Verhandlungen tatsächlich erst im Herbst beginnen, „im Licht des nächsten Fortschrittsberichts der EU-Kommission“, sagten deutsche Diplomaten. Dieser Jahresbericht wird üblicherweise im Oktober vorgelegt.
Allerdings war zunächst noch unklar, ob mit diesem Vorgehen auch die Niederlande und Österreich einverstanden sein würden. Sie hatten ähnlich wie Deutschland Bedenken, angesichts der Spannungen in der Türkei mit neuen Verhandlungen zu beginnen. EU-Diplomaten sagten, der türkische Außenminister Ahmet Davutoglu habe die irische EU-Ratspräsidentschaft wissen lassen, er sei mit diesem Vorschlag überhaupt nicht einverstanden.
Seit mehreren Wochen demonstrieren in Istanbul und anderen türkischen Städten Zehntausende gegen die konservativ-islamische Regierung. Die Proteste entzündeten sich ursprünglich an Plänen, einen Park in Istanbul zu bebauen. Die Polizeigewalt gegen die Demonstranten war international kritisiert worden.
„Einerseits können wir nicht so tun, als würden die Beratungen hier in einem luftleeren Raum stattfinden und als hätte es die letzten Tage nicht gegeben“, sagte Westerwelle. „Andererseits aber müssen wir auch sehen, dass unsere gemeinsamen, allseitigen strategischen, langfristigen Interessen gewahrt werden.“ Man müsse jetzt sehen, ob das „eine tragfähige Lösung“ sei: „Ob der Vorschlag fliegt, kann man jetzt noch nicht sagen“, formulierte Westerwelle.
„Das ist eine Möglichkeit, um einen Bruch zu vermeiden“, sagte der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn. „Ich hoffe, dass man es schafft, nicht die Brücken abzubrechen.“ Der Gedanke, zunächst ein politisches Ja zu sagen, den Beginn der Verhandlungen aber „auf Herbst oder Winter“ zu verschieben, sei noch keineswegs von allen EU-Regierungen akzeptiert.
Diplomaten erwarteten, dass sich die Europaminister der EU an diesem Dienstag mit dem möglichen Verhandlungsangebot an die Türkei beschäftigen würden. Eine Entscheidung wird am Dienstag erwartet, da der Beginn neuer Verhandlungen ursprünglich für Mittwoch geplant war.
Der österreichische Außenminister Michael Spindelegger sagte, man brauche einen „Bewährungszeitraum“, in dem man sehe, „dass die Türkei es ernst meint mit Grundrechten, und dann kann man eine solche Kapiteleröffnung vorsehen“. Zu Beginn der Gespräche in Luxemburg hatte er gesagt: „Ich denke im Moment, dass es eine Bewegung vonseiten der Türkei geben muss, bevor wir ein neues Kapitel aufmachen.“
Bisher sind von insgesamt 35 „Kapiteln“ erst 13 eröffnet worden, eines wurde schon geschlossen. Die Eröffnung von acht Bereichen wurde von der EU wegen des Streits mit der Türkei um die Beziehungen Ankaras zu Zypern blockiert, Zypern blockierte sechs andere „Kapitel“ in eigener Verantwortung. Entscheidungen über die Eröffnung einzelner Kapitel können nur einstimmig getroffen werden.
Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte in Berlin bei einer Veranstaltung der Türkisch-Deutschen Industrie- und Handelskammer: „Die Gespräche jetzt über das nächste Kapitel laufen, aber meine herzliche Bitte ist: Wir müssen vorankommen, insbesondere in der Frage des Ankara-Protokolls.“ Dieses Zusatzprotokoll verlangt als Bedingung für einen EU-Beitritt der Türkei die Öffnung ihrer Häfen und Flughäfen für Schiffe und Flugzeuge auch aus dem EU-Land Zypern. Dies verweigert die Türkei.
Schwedens Außenminister Carl Bildt sagte, die EU verfolge mit ihrer Politik strategische Ziele: „Das ist nichts, was hier oder dort Gegenstand kurzfristiger Launen sein sollte.“ Man könne „die Strategie der EU nicht ändern, weil es da oder dort Nervosität gibt“: „So kann man keine verantwortungsvolle europäische Politik betreiben. In unterschiedlichen Ländern passieren alle möglichen Dinge.“