Harter Brexit-Wahlkampf kommt wieder auf Touren

London/Brüssel (dpa) - Wenige Tage vor dem historischen EU-Referendum in Großbritannien ist der nach der Ermordung der Abgeordneten Jo Cox unterbrochene Wahlkampf wieder entbrannt. Premierminister David Cameron beschuldigte das Brexit-Lager, mit unwahren Behauptungen und falschen Zahlen zu arbeiten.

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Das Parlament gedachte der ermordeten Abgeordneten und Brexit-Gegnerin Cox. In einer Geste der Gemeinsamkeit trugen alle Parlamentarier eine weiße Rose an der Kleidung. Auf dem Platz der Toten lagen zwei Rosen.

In einer emotionalen Parlamentssitzung rief Labour-Chef Jeremy Corbyn zu einem behutsameren und weniger aggressiven Umgang in der Politik auf. Das Land sei sich einig, „den Hass zu bekämpfen“, der die Abgeordnete getötet habe. Die Tat erscheine immer mehr als ein „Akt extremer politischer Gewalt“ und „Angriff auf die gesamte Gesellschaft“, sagte Corbyn.

Cameron würdigte Cox als „Stimme für die Menschlichkeit“. Mehrere jüngere Abgeordnete meldeten sich mit tränenerstickter Stimme zu Wort und hoben besonders das humanitäre Engagement von Cox etwa für Flüchtlinge hervor.

Der mutmaßliche Mörder der Abgeordneten, Thomas M., wurde über eine Videoschalte vor dem zentralen Strafgericht Old Bailey in London befragt. Diesmal nannte er den Richtern seinen wirklichen Namen, wie der britische Sender BBC berichtete. Noch am Samstag hatte er vor einem niederen Gericht auf die Frage nach seinem Namen gesagt: „Tod den Verrätern. Freiheit für Großbritannien.“

Der 52-jährige soll nach Medienberichten Kontakte zu einer Nazigruppe in den USA und zu einer südafrikanischen Rassistenorganisation gehabt haben. Cox, die am Mittwoch 42 Jahre alt geworden wäre, war am Donnerstag durch Schüsse und Messerstiche getötet worden.

Zugleich ging die Debatte um das EU-Referendum an diesem Donnerstag weiter. EU-Außenminister warnten am Montag vor einem Ausscheiden Londons aus dem Club der 28 Staaten. „Wir verlieren Geschichte und Tradition Großbritanniens innerhalb der Europäischen Union, die wichtig ist und war für uns“, sagte Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD). Sein österreichischer Kollegen Sebastian Kurz fürchtet „massiv negative Auswirkungen“ bei einem Brexit. Die EU würde wirtschafts-, außen- und verteidigungspolitisch schwächer werden.

Cameron warf dem Brexit-Lager in einer BBC-Fragestunde am Sonntagabend vor, bei mehreren zentralen Themen nicht die Wahrheit zu sagen: Es treffe nicht zu, dass die Türkei demnächst in die EU komme. Unwahr sei auch, dass Großbritannien einer europäischen Armee angehören werde. Falsch sei ebenfalls, dass London jede Woche 350 Millionen Pfund an Brüssel zahle.

Der Austritts-Wortführer und Londoner Ex-Bürgermeister Boris Johnson hielt Cameron politische Ideenlosigkeit vor. In der EU zu bleiben bedeute, „hinten in einem Auto eingesperrt zu sein, das jemand fährt, der nicht gut Englisch spricht und in eine Richtung steuert, in die wir nicht wollen“, schrieb er in einem Namensartikel im „Daily Telegraph“.

Nach wie vor ist unklar, inwieweit der Tod der EU-Anhängerin Cox den Ausgang des Referendums am 23. Juni beeinflussen könnte. Umfragen, die teilweise davor, teils nach der Ermordung von Cox gemacht wurden, sprechen von Zugewinnen des Pro-EU-Lagers. Allerdings sieht es nach wie vor nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen am Donnerstag aus.

Top-Manager der britischen Autoindustrie sprachen sich für einen Verbleib in der Gemeinschaft aus. Ein Brexit könnte Jobs und Investitionen gefährden.

Eine konservative Brexit-Befürworterin wechselte indes ins Pro-EU-Lager. Die Oberhaus-Parlamentarierin Baroness Warsi begründete ihren Schritt mit „Hass und Ausländerfeindlichkeit“, die sich in der Brexit-Kampagne breitmachten. Sie verwies dabei besonders auf ein Plakat der rechtskonservativen Ukip-Partei: Es zeigt eine lange Menschenschlange und die Worte „Breaking Point“ - Bruchstelle. Das Poster hatte schon zuvor für Aufregung und Kritik gesorgt, auch im Brexit-Lager.

Ukip-Chef Nigel Farage verteidigte das Poster. „Die Absicht war es, das Poster für einen Tag zu nutzen, um zu zeigen, dass die EU in jedem Sinne ein gescheitertes Projekt ist“, meinte Farage.