Interview Kliche: "Sonnenbrand im Alltag gefährlicher als Terror"

Berlin. Das Attentat von Nizza, der Putschversuch in der Türkei, die Polizistenmorde in den USA - die Katastrophenmeldungen reißen nicht ab. Wie mit den Horrornachrichten umgehen?

Das Attentat von Nizza, der Putschversuch in der Türkei, die Polizistenmorde in den USA - die Katastrophenmeldungen reißen nicht ab. Wie mit den Horrornachrichten umgehen?

Foto: Maurizio Gambarini

Der Politikpsychologe der Hochschule Magdeburg-Stendal, Thomas Kliche, glaubt, dass der Mensch trotzdem funktioniert. Durchfall und Sonnenbrand seien im Alltag gefährlicher als der Terror, so Kliche im Gespräch mit unserer Redaktion.

Herr Professor Kliche, Nizza, Türkei, USA, man hat den Eindruck, die Welt versinkt im Chaos. Entspricht die Gefühlslage der Realität?

Thomas Kliche: Auf den ersten Blick ist das Quark. Viele Menschen fühlen das nicht so, sondern arbeiten weiter oder fliegen in Urlaub, und in unserem Alltag sind Straßenunfälle und Mobbing, Durchfall und Sonnenbrand für die allerallermeisten unvergleichlich gefährlicher als Terror. Und noch wichtiger: Unsere Einrichtungen funktionieren gut.

Wie meinen Sie das?

Thomas Kliche: Wir haben ein gutes Maß Zivilisation verinnerlicht. Das ist anstrengend, es fordert Selbstdisziplin und Augenmaß, aber es hat einen riesigen Vorteil: Wir sind dauerhaft zu berechenbarer Zusammenarbeit in der Lage, und damit können wir Probleme lösen oder erstmal einfrieden. Aus diesem einfachen Grund verteidigen wir unsere Fähigkeit zum besonnenen Zusammenwirken gegen Hetze im Internet, wo Menschen das erlebte Chaos der Welt ohne Nachdenken in Gefühlwallungen umsetzen.

Das heißt, es gibt keinen Grund für Weltschmerz?

Thomas Kliche:
Doch, und eigentlich ist es Existenzangst. Auf den zweiten Blick haben die Menschen etwas begriffen, noch vorbewusst, aber das geht tiefer als 1989. Damals gab es einen Plan, Konsumziele, Aufbruchstimmung. Heute gibt es Brexit und AfD. Die ungewollte Einsicht seit 2015 ist: Wir bestimmen nicht allein auf der Welt. Wir brauchen eine neue internationale Ordnung, die für Sicherheit und Gerechtigkeit sorgt, um Finanzströme und Steuerflucht zu bändigen, Fluchtursachen zu bekämpfen und die Umweltzerstörung zu beenden. Das Vorhaben ist kaum überschaubar, es wird ein bis drei Generationen dauern. Aber wir stehen unter Zeitdruck, die Polkappen schmelzen.

Klingt übel. Reagieren die politisch Handelnden richtig auf die schlimmen Ereignisse?

Thomas Kliche: Jein. Uns fallen jetzt alle Torheiten seit 2000 auf die Füße. Die Jahre der selbstgefälligen Stagnation, das Wegsehen bei sozialer Ungerechtigkeit, die Entpolitisierung, die wirren und zerstörerischen Kriege, die westliche Bündnisse geführt haben. Viele Menschen sind verblüfft, dass es doch nicht so gut aussieht, wie sich alle eingeredet haben. Dafür hatten sie die Weiter-So-Politiker nicht gewählt. Und die können jetzt nicht kurz mal auf tiefe Reformen umschwenken. Denn sie sind ja für Ruhe und Bequemlichkeit gewählt worden, nicht für neue Ideen. Mitte letzten Jahres ist dieser psychologische Kontrakt für die Mehrheiten gebrochen worden. Damit müssen die erstmal zurechtkommen, das löst auch dieses Gefühl von Betrug aus, an dem die AfD schmarotzt.

Auf der anderen Seite stellt sich die Frage, was die derzeit so extremen Nachrichten mit den Menschen machen. Haben Sie darauf ein Antwort?

Thomas Kliche: Scheinbar Verschiedenes, aber in Wirklichkeit bleiben die meisten bei ihren Lebensmustern. Die haben ihnen ja schon immer geholfen, die Wirklichkeit auszuhalten. Die Psychologie spricht vom Alltagsbewusstsein: Musikantenstadel und Fernsehgarten statt der Wirklichkeit in den armen Ländern, die man mit relativ wenig Geld ändern könnte. Horror- und Gemetzelfilme statt Nachdenken über die Gemeinheit, die auf der Arbeit stattfindet und der man entgegentreten könnte. Alltagsbewusstsein sind solche eingeübten Formeln, mit denen wir in Widersprüchen leben und die Schlechtigkeit der Welt ertragen können, ohne uns arg aufzuregen. Aber weil die Menschen wissen, wie selbstmanipulativ sie Medien nutzen, greift dann der Vorwurf der Lügenpresse: Wer Medien wie Drogen nimmt, weiß natürlich, dass er ihnen nicht vertrauen kann.

Gibt es noch Möglichkeiten, sich in Zeiten der multimedialen Kommunikation den schlechten Nachrichten zu entziehen?

Thomas Kliche: Denken wir an den Wald und die Bäume: Wenn wir die Landkarte kennen, finden wir Wege und müssen uns nicht vor jedem Ast fürchten, der uns auf den Kopf fallen könnte. Wichtig ist also eine Grundorientierung, eine Allgemeinbildung, die uns eine Landkarte von der Welt gibt, und zwar eine mit vielseitigen Tatsachen und Informationen, nicht nur zusammengestöpselt aus dem Internet. Wir müssen nicht jeden Tag Nachrichten sehen, aber wir sollten Zeit für Qualitätsmedien aufbringen - Zeitschriften, Radioreportagen, anspruchsvolle Fernsehsendungen. Sonst bleiben wir der seelische Gummiball, der ewig durch die Geisterbahn hopst.