Merkel spricht von „Krieg“ in Afghanistan
Masar-i-Scharif/Kundus (dpa) - Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat bei ihrem überraschenden Truppenbesuch in Nordafghanistan so deutlich wie nie zuvor von einem „Krieg“ am Hindukusch gesprochen.
Vor Journalisten im Bundeswehr-Feldlager in Masar-i-Scharif sagte die Kanzlerin am Samstag: „Wenn man sich mit der Realität unserer Soldaten befasst, ist das eben in der Region Kundus so, dass sie in wirklichen Gefechten stehen - so wie Soldaten das in einem Krieg tun. (...) Ich finde, das sollte man beim Namen nennen.“
Die Kanzlerin sagte weiter: „So etwas kannten wir seit dem Zweiten Weltkrieg nicht. Wir haben uns das von unseren Eltern und Großeltern erzählen lassen.“ Vor dem Besuch in Masar-i-Scharif war Merkel am Samstag bereits im deutschen Feldlager in Kundus gewesen. Dort hatte sie sich vor der Truppe ähnlich geäußert. „Wir haben hier nicht nur kriegsähnliche Zustände, sondern Sie sind in Kämpfe verwickelt, wie man sie im Krieg hat“, sagte sie vor mehreren hundert Soldaten. „Das ist für uns eine völlig neue Erfahrung.“
Der erste Truppenbesuch Merkels in Afghanistan seit April 2009 wurde vom Tod eines deutschen Soldaten überschattet, der kurz vor dem Eintreffen Merkels am Freitag bei einem Unfall an einer Schusswunde starb. Dem Vernehmen nach löste sich beim Reinigen von Waffen ein Schuss, nachdem die Soldaten von einem Einsatz zurückgekehrt waren.
„Ein besonders tragisches Unglück hat ihm das Leben genommen nach einem Einsatz mit vielen Gefahren. Er hatte ihn heil überstanden“, sagte Merkel bei der Gedenkfeier für den 21-jährigen Hauptgefreiten in Masar-i-Scharif, an der 800 Soldaten teilnahmen. „Es ist grausam, eine Woche vor Weihnachten die Nachricht vom Tod des geliebten Sohnes und Bruders zu bekommen.“
Merkel kam im Feldlager in Masar-i-Scharif mit dem afghanischen Präsidenten Hamid Karsai und dem Kommandeur der Internationalen Schutztruppe Isaf, US-General David Petraeus, zusammen. Vor dem Treffen sagte Merkel, sie wolle mit Karsai über den Aufbau der Verwaltung und über die Korruption sprechen. „Die Fortschritte sind hier noch nicht so, wie wir uns das vorstellen.“
Nach dem Gespräch sagte Merkel auf die Frage, ob Karsai versprochen habe, gegen die Korruption vorzugehen: „Er hat konkret ehrlich gesagt gar nichts versprochen.“ Der Präsident nannte Merkel „eine sehr gute Freundin“. Die Kanzlerin wurde bei ihrer dritten Reise nach Afghanistan nach 2007 und 2009 von Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) und dem Generalinspekteur der Bundeswehr, Volker Wieker, begleitet.
Zum Ziel der Bundesregierung, Ende 2011 erste Bundeswehr-Soldaten aus Afghanistan abzuziehen, sagte die Kanzlerin: „Das setzt voraus, dass die Lage auch so ist, dass man das verantworten kann.“ Darin sei sich die Bundesregierung einig. Die SPD forderte Merkel dazu auf, den Soldaten in Afghanistan zu erklären, dass der anvisierte Terminplan für den Abzug verbindlich sei. Das sagte der verteidigungspolitische Sprecher der SPD im Bundestag, Rainer Arnold, der „Leipziger Volkszeitung“ (Samstag).
Außenminister Guido Westerwelle hatte am Donnerstag im Bundestag in Aussicht gestellt, mit dem schrittweisen Abzug der Truppen - wie ursprünglich einmal geplant - Ende 2011 zu beginnen. Damit ging er einen Schritt auf die SPD zu, die dies fordert. Guttenberg hatte dagegen davor gewarnt, sich auf ein konkretes Datum festzulegen.
Isaf-Sprecher Josef Blotz sagte, der Abzugsprozess müsse sich an den Bedingungen in Afghanistan und nicht an einem „theoretischen und unflexiblen Zeitplan“ orientieren. „Wenn Sie als Feuerwehr einen Brand in einem Hochhaus bekämpfen, dann sagen Sie ja auch nicht, um 19 Uhr ist Feierabend, egal, ob es dann noch brennt“, sagte der Bundeswehr-General der dpa. „Und selbst wenn das Feuer gelöscht ist, dann lassen Sie eine Brandwache da, damit es nicht wieder entflammt.“
Merkel sprach den Soldaten ihre Anerkennung aus. „Der Grund, warum ich auch hier bin, ist Ihnen Dankeschön zu sagen“, sagte sie in Kundus. „Wir wissen, dass das eine extrem gefährliche Sache ist und sich viele noch lange nach dem Einsatz damit rumplagen, was sie hier erlebt haben.“ Das militärische Engagement am Hindukusch diene auch der Sicherheit Deutschlands. „Ohne Sie könnten wir nicht so sicher leben, und das müssen wir den Menschen auch sagen“.
Zur ablehnenden Haltung vieler Bundesbürger zum Einsatz sagte die Kanzlerin: „Die Bevölkerung sieht diesen Einsatz zum Teil skeptisch, und trotzdem ist sie stolz auf Sie.“ 2010 kamen acht deutsche Soldaten bei Anschlägen und Gefechten in Afghanistan ums Leben - mehr als in je zuvor. Mit dem jüngsten Unfallopfer kostete der Einsatz am Hindukusch bisher 45 deutsche Soldaten das Leben. Von ihnen starben 27 bei Anschlägen und Gefechten.
Merkel hat das Wort „Krieg“ im Zusammenhang mit dem Einsatz in Afghanistan bereits früher verwendet, aber nie so direkt wie bei dem jüngsten Truppenbesuch. Vor rund vier Wochen hatte sie bei der Bundeswehrtagung in Dresden gesagt, sie habe alles Verständnis dafür, wenn Soldaten sogar davon sprächen, dass sie „partiell ... in einem Krieg“ seien. Merkel reiste am Samstag nach dem Ende ihres Blitzbesuches über den usbekischen Luftwaffenstützpunkt Termes zurück. Sie wurde noch am Abend (MEZ) in Berlin erwartet.
Im Januar entscheidet der Bundestag über die erneute Verlängerung des Mandats für den Afghanistan-Einsatz. Es erlaubt die Stationierung von bis zu 5350 Soldaten. Derzeit sind rund 4700 dort. Die schwarz-gelbe Koalition ist um breite Unterstützung im Parlament bemüht. Bei SPD und Grünen, in deren Regierungszeit der Einsatz Ende 2001 beschlossen wurde, werden die Zweifel immer größer. Die Linke hat bisher in allen Abstimmungen die Zustimmung verweigert. Die Mehrheit der Deutschen lehnt die Mission laut Umfragen ab.
Die Bundesregierung hatte am Montag einen „Fortschrittsbericht“ vorgelegt und darin den Abzugstermin offen gelassen. Ziel der Regierung ist, 2014 die Verantwortung für die Sicherheit an die afghanische Polizei und Armee abzugeben. Das ist auch der erklärte Wille Karsais. Kritiker bezweifeln, dass Afghanistan bereits in vier Jahren in der Lage ist, selbst für seine Sicherheit zu sorgen.