„Paneuropäisches Picknick“: Wie DDR-Bürger den Mauerfall probten
Budapest (dpa) - „Bitte stehenbleiben!“, hat Johann Göltl noch gerufen. Freilich hat diese Aufforderung nichts genützt.
Massen von DDR-Bürgern drückten an jenem 19. August 1989 auf einer Wiese im ungarischen Sopronpuszta das Grenztor nach Österreich auf und rannten in den freien Westen - an den tatenlos zuschauenden Grenzwächtern beider Länder vorbei.
Sie nutzten eine kurzfristige Grenzöffnung anlässlich einer unter dem Motto „Paneuropäisches Picknick“ geplanten Friedensdemonstration. Göltl tat damals als Chefinspektor des österreichischen Zolls Dienst an dem Grenzübergang. „Ich war von den Ereignissen völlig überrascht“, sagt er heute im Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa.
Dabei lag damals die Öffnung des Eisernen Vorhangs schon in der Luft. Am 27. Juni hatten Ungarns Außenminister Gyula Horn (1932-2013) und sein österreichischer Kollege Alois Mock symbolisch einen Grenzzaun durchtrennt, der für das Medien-Ereignis wieder aufgebaut werden musste, weil Ungarn bereits im Mai begonnen hatte, den Stacheldraht abzubauen. Ungarns damaliger Ministerpräsident Miklos Németh hatte dies bereits im März im vertraulichen Gespräch mit Kremlchef Michail Gorbatschow angekündigt.
Dennoch herrschte Monate später noch Unsicherheit. Gorbatschow hatte gegenüber Németh den Zaun-Abbau weder gutgeheißen noch verurteilt. Mehr als vor Moskau aber hatte Budapest damals Angst vor Reaktionen der Bruderstaaten aus dem sozialistischen Block. Zudem besagte der Zaun-Abbau offiziell noch nicht, dass jeder ohne Kontrolle die Grenze überschreiten darf. Dennoch gelang vielen DDR-Bürgern die Flucht über die grüne Grenze. Németh erinnerte sich 20 Jahre später, dass sogar der damalige US-Botschafter in Ungarn, Mark Palmer, ihm zur Vorsicht geraten habe. „Die Stabilität ist wichtiger als die Souveränität“, soll Palmer ihm gesagt haben. Für Németh war das „Paneuropäische Picknick“, dessen Planung er kannte, ein weiterer Test für die Reaktionen aus dem Ostblock-Lager.
In diesem spannungsgeladenen Klima planten die ungarischen Oppositionsparteien MDF (Ungarisches Demokratisches Forum) und SZDSZ (Bund Freier Demokraten) zusammen mit der von Otto von Habsburg geführten Paneuropa-Union das „Picknick“. Ungarn und Österreicher sollten dabei am Lagerfeuer Speck braten und diskutieren. Nur für diesen einen Tag sollte bei Sopronpuszta ein provisorischer Grenzübergang eingerichtet und für exakt drei Stunden geöffnet werden. Den eigens hinbestellten Grenzbeamten war eine höchstens 100-köpfige Delegation von Besuchern angekündigt worden. Sie ahnten nicht, dass hunderte DDR-Bürger, die über Flugblätter und Radio Freies Europa von dem geplanten „Picknick“ erfahren hatten, bereits sturmbereit in den Maisfeldern auf die Grenzöffnung warteten.
„Kinder haben geschrieen, alte Leute haben geweint. Babys sind aus den Kinderwägen gefallen, die von ihren Eltern über den holprigen Waldweg geschoben wurden“, erinnert sich der Zöllner Göltl an den Ansturm. Rund 700 DDR-Bürger gelangten an dem Tag nach Österreich. Der ungarische Grenzkontrolleur Arpad Bella und Göltl waren sich schnell einig, dass man dem Ansturm einfach freien Lauf lassen musste. Beide verletzten Dienstvorschriften, verhinderten aber dadurch wohl ein Blutbad.
40 Minuten später sei aus Budapest ein Befehl zur sofortigen Grenzschließung gekommen. Eine Hundertschaft ungarischer Soldaten mit Kalaschnikows rückte zur Verstärkung des Grenzschutzes an. Nur drei Tage später wurde der Weimarer Architekt Kurt-Werner Schulz beim Versuch erschossen, die ungarisch-österreichische Grenze zu passieren. Der Schuss löste sich versehentlich bei einem Ringkampf mit einem Grenzsoldaten, den der DDR-Flüchtling entwaffnen wollte. Schulz war das letzte Todesopfer des Eisernen Vorhangs. Am 10. September 1989 verkündete Ungarn offiziell die endgültige und vollständige Öffnung der Grenzen, für alle.