G20 und der Ukraine-Krieg Raketen-Freigabe der USA setzt Scholz unter Druck

Rio de Janeiro · Eigentlich hat Kanzler Scholz schon im Februar einen Strich unter die Taurus-Debatte gemacht. Aber er wird das Thema nicht los. Beim G20-Gipfel holt es ihn ein.

Biden überrascht mit Ukraine-Zusage vor G20-Gipfel in Rio
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Die angebliche US-Erlaubnis für den Einsatz weitreichender Waffen gegen russisches Territorium hat die deutsche Debatte über die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern in die Ukraine neu entfacht. Aus den Reihen der Grünen kommt die Forderung, die Raketen mit einer Reichweite von 500 Kilometern nun zu liefern. Union und FDP sind auch dafür. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), der am Sonntagabend beim G20-Gipfel in Rio de Janeiro eintraf, sperrt sich seit vielen Monaten dagegen.

Der stellvertretende Regierungssprecher Wolfgang Büchner bekräftigte diese Haltung nach mehreren Medienberichten über die US-Entscheidung. „Ja, die Bundesregierung war darüber informiert und nein, es hat keine Auswirkungen auf die Entscheidung des Bundeskanzlers, Taurus nicht zu liefern.“

Das Thema dürfte am Rande des G20-Gipfels für Diskussionen sorgen, auch wenn der Ukraine-Krieg dort offiziell keine Rolle spielt. Das gilt auch für Drohnenlieferungen an Russland, die Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) am Rande eines EU-Treffens in Brüssel China vorwarf. „Das muss und wird Konsequenzen haben“, sagte sie dort. Am Dienstag trifft Scholz den chinesischen Präsidenten Xi Jinping in Rio.

Scholz nimmt am G20-Gipfel der führenden Industrie- und Schwellenländer in Rio de Janeiro teil.

Foto: Kay Nietfeld/dpa

Drei Nato-Staaten haben weitreichende Waffen geliefert

Neben Scholz sind mit US-Präsident Joe Biden, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Großbritanniens Premierminister Keir Starmer die drei Nato-Staaten vertreten, die bereits Raketen mit größerer Reichweite an die Ukraine geliefert haben. Deren Einsatz gegen russisches Territorium fordert der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj seit Monaten, um Stellungen und Nachschublinien auf russischem Gebiet weit hinter der Frontlinie treffen zu können. Es geht vor allem um russische Militärflughäfen, von denen Kampfjets aufsteigen, um auf ukrainische Ziele Gleitbomben abzuwerfen oder Raketen abzufeuern.

Den US-Medienberichten zufolge soll Biden nun eine Erlaubnis für den Einsatz von ATACMS-Raketen mit einer Reichweite von bis zu 300 Kilometern gegeben haben. Die Waffen sollen wahrscheinlich zunächst gegen russische und nordkoreanische Truppen eingesetzt werden, um die ukrainischen Streitkräfte in der westrussischen Region Kursk zu unterstützen. Ukrainische Soldaten waren Anfang August überraschend nach Kursk vorgestoßen und halten dort seither Gebiete. Nun zeichnet sich eine Gegenoffensive Moskaus ab, um die ukrainischen Truppen wieder zurückzudrängen. Kiew versucht, die Gebiete weiter zu halten, um sie in künftigen Verhandlungen mit Russland als Druckmittel zu nutzen.

USA äußern sich nicht zu Taurus

Der stellvertretende Nationale Sicherheitsberater der USA, Jon Finer, wollte die Berichte zwar nicht offiziell bestätigen, dementierte sie aber auch nicht. Er verwies mit Blick auf Berichte über den Einsatz nordkoreanischer Truppen auf russischer Seite darauf, dass es in den vergangenen Wochen eine „bedeutende russische Eskalation“ gegeben habe. „Wir haben den Russen gegenüber deutlich gemacht, dass wir darauf reagieren würden.“ Auf die Frage, ob die US-Regierung eine Lieferung der deutschen Marschflugkörper Taurus unterstütze, wollte Finer nicht antworten.

Bislang beschränkten die USA wie auch Deutschland den Einsatz ihrer Waffen gegen Russland auf die Abwehr der russischen Offensive gegen die ostukrainische Stadt Charkiw. Hier haben die USA den Einsatz des Raketenwerfersystems vom Typ Himars erlaubt. Die weitreichendste von Deutschland an die Ukraine gelieferte Waffe ist bisher der Raketenwerfer Mars II, der Ziele in 84 Kilometern Entfernung treffen kann.

Die Kehrtwende Bidens so kurz vor dem Machtwechsel in Washington ist beachtlich. Sein designierter Nachfolger Donald Trump hat die milliardenschwere US-Militärhilfe für die Ukraine im Wahlkampf stets infrage gestellt. Dennoch muss die strategische Entscheidung Bidens nicht im Widerspruch zu Trumps Politik stehen. Der Republikaner will Russlands Präsident Wladimir Putin an den Verhandlungstisch zwingen. Trumps designierter Nationaler Sicherheitsberater Mike Waltz gab kurz vor der US-Wahl ein Interview und sprach darin auch darüber, dass Moskau und die Ukraine verhandeln müssten. „Wir haben ein Druckmittel, zum Beispiel das Abnehmen der Handschellen für die Langstreckenwaffen, die wir der Ukraine geliefert haben“, sagte Waltz.

Kanzler hat einen Großteil der Bevölkerung hinter sich

Gegen die Lieferung von Taurus stemmt sich Scholz seit Monaten, weil er darin eine Eskalationsgefahr sieht. Er hat mehrfach darauf verwiesen, dass damit auch Ziele im 450 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernten Moskau erreichbar seien. Einen Großteil der Bevölkerung hat er zwar hinter sich. Union, FDP und auch die nach dem Ampel-Aus noch verbliebenen Koalitionspartner, die Grünen, kritisieren ihn aber für seine Haltung.

Grünen-Spitzenkandidat Robert Habeck hat bereits angekündigt, dass er im Fall einer Wahl zum Regierungschef Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine liefern würde. Die FDP zieht nach dem Ampel-Aus in Erwägung, eine Abstimmung über den Taurus im Bundestag herbeizuführen. Zusammen mit den Grünen und der Union gäbe es rechnerisch eine Mehrheit. Selbst ein Bundestagsbeschluss würde aber nichts ändern. Die Entscheidung über die Lieferung von Taurus liegt bei der Bundesregierung und damit letztlich bei Scholz, der die Richtlinienkompetenz hat.

Baerbock stellt sich gegen Scholz

Außenministerin Annalena Baerbock reagierte zustimmend auf die US-Berichte. Es gehe jetzt darum, „dass die Ukrainer nicht warten müssen, dass die Rakete über die Grenze fliegt, sondern dass man die militärischen Abschussbasen, dass man von dort, wo die Rakete geflogen wird, dass man das zerstören kann“, sagte sie im rbb Inforadio. Es sei schon lange bekannt, dass die Grünen „das genauso sehen wie unsere osteuropäischen Partner, wie die Briten, wie die Franzosen und auch wie die Amerikaner“.

Die sicherheitspolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion, Sara Nanni, rief den Kanzler in den Zeitungen der Mediengruppe Bayern auf, seinen Widerstand gegen die Taurus-Lieferung aufzugeben. „Wenn Scholz jetzt über die Taurus Frage Wahlkampf machen will, steht er auf der falschen Seite der Geschichte. Die Ukraine hat das Recht sich zu verteidigen.“

Briten und Franzosen halten sich bedeckt

Die britische Regierung hielt sich nach den US-Medienberichten zunächst bedeckt. London unterstützt die Ukraine mit Raketen vom Typ Storm Shadow. Der britischen Nachrichtenagentur PA zufolge beantwortete eine Regierungssprecherin nicht, ob deren Einsatz auf russischem Gebiet nun auch erlaubt werde. „Wir waren stets überzeugt, dass die Bekanntgabe spezifischer Details zu operativen Fragen nur Putin in seinem andauernden illegalen Krieg nutzen würde“, sagte sie demnach.

Frankreichs Außenminister Jean-Noël Barrot verwies auf Aussagen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron vom Mai. Frankreich habe damals gesagt, dass der Einsatz der weitreichenden Waffen eine Option sei, die man erwäge. Frankreich liefert Scalp-Raketen, die baugleich mit den Storm Shadow sind. „Wir denken, dass wir ihnen erlauben sollten, die Militärstandorte, von denen aus die Raketen abgefeuert werden, und im Grunde genommen die militärischen Standorte, von denen aus die Ukraine angegriffen wird, zu neutralisieren“, hatte Macron damals gesagt.

© dpa-infocom, dpa:241117-930-291530/6

(dpa)