Krieg in der Ukraine Selenskyj wirft Moskau Unwahrheiten vor - Der Ausblick auf den Tag

Kiew/Moskau · Der ukrainische Präsident wirft Moskau Angst vor der Wahrheit vor. Die Militärs in Kiew rechnen mit einem Angriff im Osten des Landes. Sorge wächst auch um die wirtschaftlichen Folgen. Im Folgenden ein Überblick zum Geschehen in der Nacht und ein Ausblick auf den Tag.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat Russland eine Politik der Tatsachenleugnung vorgeworfen.

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Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat Russland eine Politik der Tatsachenleugnung vorgeworfen. Die ukrainische Regierung wie auch internationale Experten sorgen sich über die wirtschaftlichen Folgen des seit mehr als anderthalb Monaten andauernden Angriffskrieges für das Land. Die russische Armee strebt nach Ansicht Kiews weiterhin das „Minimalziel Ostukraine“ an. Österreichs Kanzler Karl Nehammer will sich derweil als Brückenbauer zwischen Kiew und Moskau versuchen und reist am Montag in den Kreml.

Selenskyj: Russland kann Fehler in Ukraine-Politik nicht zugeben

Selenskyj warf in seiner Videoansprache in der Nacht zum Montag Moskau vor, sich aus der Verantwortung zu stehlen - während die Ukraine bemüht sei, „jeden Bastard, der unter russischer Flagge in unser Land gekommen ist und unsere Leute getötet hat“, zur Rechenschaft zu bringen, so der Staatschef. Die staatlich kontrollierten russischen Medien betrieben selektive Wahrheitsfindung: „Sie rechtfertigen sich und dementieren. Sie weisen jede Verantwortung von sich. Sie lügen“, sagte Selenskyj weiter.

Moskau hat zudem nach Meinung Selenskyjs nicht den Mut, seine fehlgeleitete Ukraine-Politik einzugestehen. „Sie haben Angst davor, zuzugeben, dass sie über Jahrzehnte falsche Positionen bezogen und kolossale Ressourcen ausgegeben haben, um menschliche Nullen zu unterstützen, die sie als künftige Helden der ukrainisch-russischen Freundschaft aufbauen wollten“, sagte er. Der Versuch Moskaus, eigene Leute in der Ukraine aufzubauen, habe nicht funktioniert.

„Wenn Menschen der Mut fehlt, Fehler zuzugeben, sich zu entschuldigen, sich der Realität anzupassen, verwandeln sie sich in Monster“, sagte Selenskyj. „Und wenn die Welt dies ignoriert, entscheiden die Monster, dass sich die Welt ihnen anpassen muss.“ Dennoch werde der Tag kommen, an dem Russland die Wahrheit eingestehen müsse.

Sorge um wirtschaftliche Auswirkungen des Krieges

Die Ukraine hat nach Schätzungen der Regierung durch die Invasion russischer Truppen bisher Schäden in Höhe von bis zu einer Billion US-Dollar erlitten. Das sagte der stellvertretende Wirtschaftsminister Olexander Griban am Sonntag bei einer Regierungssitzung, wie die Agentur Unian berichtete. Die Verluste seien schlicht „kolossal“, die Aufstellung sei noch nicht vollständig. „Es sind Milliarden von Dollar an Schäden, möglicherweise bis zu einer Billion Dollar“, sagte Griban, ohne seine Zahlenangaben näher zu belegen.

Die Weltbank erwartet, dass sich die Wirtschaftsleistung der Ukraine in Folge des Krieges in diesem Jahr fast halbieren wird. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) werde im Vergleich zum Vorjahr um rund 45 Prozent einbrechen, lautet die Weltbank-Prognose vom Sonntag. Die Organisation schränkte jedoch ein, dass „das Ausmaß des wirtschaftlichen Einbruchs“ von „der Dauer und der Intensität des Kriegs“ abhängen werde. Im Januar, also vor Beginn des Kriegs Ende Februar, hatte die Weltbank in einer Prognose für die Ukraine noch ein Wirtschaftswachstum von rund 3 Prozent erwartet.

Es sei damit zu rechnen, dass die Folgen des Konflikts das wirtschaftliche Potenzial der Ukraine auch über das Jahr hinaus schwächen werden. „Viele Aspekte der ukrainischen Wirtschaft brechen zusammen“, erklärte die Weltbank. Die Auswirkungen von Krieg, Flucht und Vertreibung auf die Armut in der Ukraine werden wahrscheinlich ebenfalls „verheerend sein“, wie es weiter hieß. „Der Krieg hat eine bedeutende Menge der produktiven Infrastruktur zerstört - darunter Schienen, Brücken, Häfen und Straßen -, weswegen wirtschaftliche Aktivitäten in weiten Teilen dieser Gebiete unmöglich geworden sind.“ Auch die Landwirtschaft sei vielerorts unterbrochen.

Die ukrainische Regierung stellte am Sonntag erstmals Mittel für dringende Aufräum- und Reparaturarbeiten in den von russischer Besatzung befreiten Gebieten bereit. Ministerpräsident Denys Schmyhal nannte eine Summe von einer Milliarde Hrywnja (31,2 Millionen Euro).

Kiew: Russische Armee zielt weiter auf Ostukraine ab

„Die russische Armee arbeitet weiter an ihrem Minimalplan Ostukraine“, sagte die stellvertretende ukrainische Verteidigungsministerin Hanna Maljar in der Nacht zum Montag, wie die Agentur Unian berichtete. Die Ukraine setze unterdessen ihre eigenen Vorbereitungen mit der Fortsetzung der Mobilmachung und der Ausbildung von Rekruten fort. Der ukrainische Generalstab erwartet in Kürze einen neuen Vorstoß der russischen Streitkräfte zur vollständigen Eroberung der Ostukraine. Dazu würden aktuell neue Truppen aus anderen Landesteilen Russlands an die Grenzen herangeführt. Die Schwerpunkte der nächsten russischen Angriffe seien bei Charkiw und Slowjansk zu erwarten.

Selenskyj-Berater: Zusammenstöße mit Russland auch in nächsten Jahren

Über den aktuellen Krieg Russlands gegen die Ukraine hinaus rechnet Selenskys Berater Olexeij Arestowytsch mit weiteren Zusammenstößen der beiden Länder in den kommenden Jahren. „Russland sucht eine neue Form des Imperiums, entweder mit Wladimir Putin oder mit Alexej Nawalny, so in 32 bis 35 Jahren werden wir mindestens noch zwei oder drei Runden mit Russland haben“, sagte Arestowytsch nach Angaben der Agentur Unian.

Selbst ein Machtwechsel im Kreml würde nach Meinung von Arestowytsch die Konfrontation mit der Ukraine nicht beenden. „Da kann einiges geschehen, es könnte sogar irgendein Liberaler übernehmen“, spekulierte Arestowytsch. „Dann gibt es eben eine Auseinandersetzung auf Ebene der Informationen, der Wirtschaft oder der Geheimdienste, auch militärisch, wenn auch ohne direkten Krieg.“ Dennoch bleibe es ein „schrecklicher Zivilisationskampf“.

Ehemalige UN-Anklägerin Del Ponte fordert Haftbefehl gegen Putin

Die frühere UN-Chefanklägerin Carla Del Ponte hat ihre Forderung nach einem internationalen Haftbefehl gegen Russlands Präsidenten Wladimir Putin bekräftigt. Putin könne zwar erst vor den Internationalen Strafgerichtshof gestellt werden, wenn er nicht mehr im Amt sei, doch die Justiz habe Geduld, sagte die Juristin im Schweizer Ort Ascona. „Es gibt keine Verjährung für diese Verbrechen. Und Putin wird nicht ewig Präsident bleiben“, sagte sie. Del Ponte war Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien und des Internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda.

Die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft wirft Russland vor, in allen Regionen der Ukraine Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben. In der Region Kiew seien am Sonntag 1222 Tote geborgen worden, sagte die ukrainische Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa am Sonntag dem britischen Sender Sky News. Putin bezeichnete sie als den „Hauptkriegsverbrecher des 21. Jahrhunderts“. Die Ukraine habe 5600 Fälle mutmaßlicher Kriegsverbrechen mit 500 Verdächtigen identifiziert.

Das wird am Montag wichtig

Österreichs Bundeskanzler Nehammer wird am Montag mit Putin in Moskau zusammentreffen. Am Samstag war Nehammer mit Selenskyj in Kiew zusammengekommen. Nehammer ist damit der erste westliche Regierungschef, der seit Kriegsbeginn zu Putin in den Kreml reist.

Bei einem Treffen der EU-Außenminister in Luxemburg soll es unter anderem um mögliche weitere Sanktionen gegen Russland und die Finanzierung zusätzlicher Waffenlieferungen an die Ukraine gehen.

(dpa)