Westerwelle mahnt Türkei zur Achtung der Freiheitsrechte

Berlin/Istanbul (dpa) - Angesichts der Demonstrationen in der Türkei hat Außenminister Guido Westerwelle (FDP) den türkischen Ministerpräsidenten Erdogan zur Achtung der Bürgerrechte aufgerufen. „Das ist eine Bewährungsprobe für die türkische Regierung, Europa und der Welt zu zeigen, dass die Herrschaft des Rechts und die Freiheitsrechte ihr etwas gelten“, sagte Westerwelle der „Welt am Sonntag“.

Insbesondere Erdogan sieht der Außenminister angesichts der „Überreaktionen der Polizei“ dabei in der Pflicht. „Ministerpräsident Erdogan hat eine besondere Verantwortung, die Lage zu beruhigen. Dieser Verantwortung muss er sich bewusst sein“, sagte Westerwelle.

Auf dem Taksim-Platz in Istanbul hatten sich auch am Freitagabend wieder zahlreiche Menschen friedlich versammelt.

EU-Erweiterungskommissar Stefan Füle rief die türkische Regierung auf, Verantwortliche für unverhältnismäßige Polizeigewalt gegen Demonstranten zu bestrafen. „Wichtig ist nun, nicht nur schnelle und transparente Ermittlungen zu führen, sondern auch die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen“, sagte Füle am Freitag bei einer Konferenz in Istanbul, an der auch Erdogan teilnahm.

Die EU und die nach einem EU-Beitritt strebenden Länder hätten die Verpflichtung, höchste demokratische Standards anzustreben, sagte Füle einem vorab verbreiteten Redemanuskript zufolge. Er nannte die Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie das Recht auf freie Berichterstattung der Medien. Auch Gruppen der Gesellschaft, die sich nicht vom Parlament vertreten fühlten, müssten Aufmerksamkeit bekommen.

„Friedliche Demonstrationen sind für diese Gruppen in einer demokratischen Gesellschaft ein legitimer Weg, ihrer Sicht Ausdruck zu verleihen“, sagte Füle. „Übertriebene Gewalt der Polizei gegen diese Gruppen hat in einer solchen Demokratie keinen Platz.“

Am frühen Morgen hatte Erdogan hat bei seiner Rückkehr aus Nordafrika ein sofortiges Ende der Proteste gefordert. Vor Tausenden Anhängern seiner islamisch-konservativen AKP sagte Erdogan am frühen Freitagmorgen am Atatürk Flughafen in Istanbul, die Demonstrationen hätten ihre demokratische Berechtigung verloren und seien zu Vandalismus geworden.

Die Protestbewegung bot Erdogan die Stirn. Die Demonstranten machten keine Anstalten, ihr Lager am Rande des Taksim-Platzes in Istanbul zu räumen. „Wir bleiben hier. Wir kämpfen weiter. Mit seinen Drohungen kann er uns nicht einschüchtern“, sagte eine junge Frau. Das Camp der Protestbewegung im Gezi-Park hat in den vergangenen Tagen nach dem Abzug der Polizei immer mehr den Charakter eines kleinen Dorfes mit Zelten, Verkäufern und Kulturveranstaltungen bekommen. An der gewaltsamen Räumung des Lagers hatten sich in der vergangenen Woche die Proteste in vielen Städten entzündet.

Gegner Erdogans setzten ihre Demonstrationen in mehreren Provinzen des Landes fort. In Istanbul gab es in der Nacht zum Freitag in mindestens einem Stadtteil neue Zusammenstöße. Zehntausende waren rund um den Taksim-Platz auf den Straßen. Die Proteste richten sich vor allem gegen den als immer autoritärer empfundenen Kurs Erdogans und seiner islamisch-konservativen AKP. Im Gezi-Park ist der Nachbau einer osmanischen Kaserne geplant, in der es Geschäfte und Wohnungen geben soll.

Grünen-Chef Cem Özdemir erwartet eine Eskalation der Lage in der Türkei, wenn Erdogan hart bleibt: „Das wird nicht lange gut gehen“, sagte Özdemir im WDR5-„Morgenecho“. Der Streit um ein kommunalpolitisches Projekt sei lösbar gewesen. „Man hat aber so reagiert, wie man fast immer in der Türkei reagiert: Man hat die Polizei auf die Leute losgelassen.“ Aus einem kleinen Aufstand sei nun ein großer geworden, sagte Özdemir, der selbst türkische Wurzeln hat.

In einem offenen Brief forderten in Deutschland Politiker aller großen Parteien sowie Künstler und Schriftsteller ein Ende der autoritären Bevormundung und der Polizeigewalt gegen friedliche Demonstranten in der Türkei. Die Protestierer seien Symbol für die große Sehnsucht nach einer freiheitlich-demokratischen und humanistischen Gesellschaft, hieß es.