Buch über Deutschland: Ein Land vor der „Zerreißprobe“

Die Deutsch-Syrerin Lamya Kaddor stellt in ihrem neuen Buch fest: Die Angst vor Fremden bedroht unsere Demokratie.

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Düsseldorf. Lamya Kaddor sorgt sich um die Demokratie in Deutschland, die noch nie so bedroht schien wie derzeit. Weshalb die Deutsch-Syrerin ihr neues Buch „Die Zerreißprobe“ betitelt. Das sei „Bestandsaufnahme, Streitschrift, Anklage und Vermittlungsversuch“ in einem und heißt im Untertitel: „Wie die Angst vor dem Fremden unsere Demokratie bedroht“.

Ein Jahr, nachdem Kanzlerin Angela Merkel in Ungarn gestrandeten Flüchtlingen die Grenzen öffnete, steht das Land vor der großen Aufgabe, etwa eine Million Menschen zu integrieren. Gleichzeitig haben Frust und ausgrenzende Parolen die Oberhoheit an den Stammtischen und an den Wahlurnen erobert. Das Merkelsche „Wir schaffen das“ ist umstritten, die viel gelobte (deutsche) Willkommenskultur aus dem September 2015 verloren. Autorin Kaddor schreibt deshalb schlicht von einem Märchen: „Unsere Debatten sind nur problemorientiert, es geht nur darum, was wir nicht schaffen, so dass jegliche Willkommenskultur im Grunde total pervertiert wird. Wer heute hilft, wird als naiver Gutmensch abgetan.“

Bestandsaufnahme: Die Politik drückt sich vor der Wahrheit, vielleicht, weil diese keine kurzfristigen Erfolge ermöglicht und Wählerstimmen kostet. Die Medien lassen sich oft genug treiben, anstatt sachlich zu berichten. Zum Beispiel in der Burka-Debatte, die, so Islamwissenschaftlerin Kaddor, alle drei Jahre wieder aufbreche: „Das bringt doch nichts, schürt nur Ängste, fördert die Gewaltbereitschaft.“ Im Internet blüht die „Hate Speech“ — mitverantwortlich für den Aufstieg der AfD.

Anklage: Überhaupt die AfD. Für Lamya Kaddor ist sie eine „NPD light“, eine „fürchterlich laute Minderheit“, die den Menschen in ihrer „zutiefst menschlichen Angst vor Veränderung, vor dem Verlust des Vertrauten“ Sicherheit biete, die aber nicht echt sei. Dabei diene die Islamfeindlichkeit nur „als Projektionsfläche für eine gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und Deutschomanie“. Unter dem Deckmantel der Angst verberge sich Fremdenhass. Islam und Muslime seien nur Chiffren für Gruppen, gegen die man öffentlich weniger leicht reüssieren könne. „Die AfD und andere Islamkritiker weichen die Demokratie, den Rechtsstaat, auf. Wir verlassen uns zu sehr darauf, dass alle wissen, was Demokratie bedeutet“, sagt die Autorin und warnt: „Deutschland hat ein Rassismusproblem, das dringend angegangen werden muss.“

Und ein Rassismusproblem, das Tradition hat. Seit 1945 habe die Politik versagt, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zu überwinden, obwohl man immer wieder Erfahrung mit Einwanderung und Minderheiten sammeln konnte — mit den Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg, den Flüchtlingen aus der DDR oder den Gastarbeitern, deren Kinder längst in dritter Generation in Deutschland leben und hier oft genug stärker verwurzelt sind als in den Ursprungsländern ihrer (Groß-)Eltern. „Wir hätten ganz andere Schlüsse aus unserer Vergangenheit ziehen können“, bedauert die 38-Jährige. So aber werde das Flüchtlingsthema einseitig dargestellt — und nur über die Forderungen an die Flüchtlinge gesprochen.

Die seien zwar berechtigt, wenn es darum gehe, die Sprache zu erlernen, Gesetze einzuhalten, bereit zu sein, sich zu öffnen, kurzum sich integrationswillig zu zeigen. Auch hält Lamya Kaddor eine Verlangsamung des Zuzugs für richtig, um der Angst vor Überfremdung zu begegnen und um denen, die bereits hier leben, Zeit zu geben, sich darauf einzustellen. Und sie appelliert, die Flüchtlingsursachen vor Ort zu bekämpfen: Indem „auch jenseits der G20-Staaten Arbeitsplätze geschaffen werden müssen, von denen die Menschen leben können“.

Vor allem aber geht es in ihrem Buch um das, „was die Gesellschaft, was die Politik für die Integration der Flüchtlinge tun kann“. Dafür müsste die Mehrheitsgesellschaft ehrlich sein, mit gesellschaftlichen Themen vernünftig, verantwortungsvoll und sachorientiert umgehen. Kaddor: „Die Gesellschaft ist ständig im Wandel begriffen und nicht homogen. Das wichtigste Ziel ist, den Menschen die Angst davor zu nehmen und im Gegenteil aufzuzeigen, wie wir daraus Kapital schlagen können.“

Basis dafür ist aus ihrer Sicht ein neuer unvölkischer Nationalbegriff. Es müsse eine intensive Debatte über die deutsche Identität geführt werden. Ein ehrlicher Meinungsaustausch sei aber nur mit denjenigen möglich, die zuhören und mitmachen, „wer das nicht tut, muss ausgegrenzt werden“. Rechtlichen Verstößen müsse mit dem „juristischen Schwert und der humorigen Keule“ begegnet werden.

Das notwendige neue deutsche „Wir“ beruhe auf Verfassungspatriotismus, demokratischen Werten, der deutschen Sprache, der Verantwortung für die Umwelt und dem Pluralismus: „Wir sind eine bunte Gesellschaft, und das ist unsere Stärke. Im Fußball beispielsweise funktioniert das doch ganz super“, wirbt Kaddor dafür, das Potenzial der Migranten zu nutzen. Globalisierung bedeute nun mal Mobilität.

Deutschland sei ein Einwanderungsland und brauche entsprechende Institutionen: ein Einwanderungsgesetz samt dazugehörigem Ministerium, Bildungsreformen und Geld für Beratungsstellen, Integrationshilfen, Schulunterricht: „Wenn man so die Menschen fördert, kann mach auch fordern, dass sie anerkennen, sich im neuen Land zu verändern.“

Schon die Chinesen schrieben: „Wenn der Wind der Veränderung weht, bauen die einen Mauern und die anderen Windmühlen.“ Kaddor stellt diesen Spruch ihrem Buch voran und den Menschen, die die Veränderung durch (Ober-)Grenzen oder Mauern verhindern wollen, entgegen.