Der Kaukasus ist Russlands Pulverfass

Die islamischen Republiken Dagestan, Inguschetien und Tschetschenien entgleiten mehr und mehr der Kontrolle Moskaus.

Düsseldorf. Im Kaukasus scheiterte schon Alexander der Große, selbst die Horden Dschingis Khans rieben sich in diesen Bergen auf, und auch der Zar brauchte drei Jahrhunderte, um das Gebiet zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer zu unterwerfen. "Der böse Tschetschene kriecht ans Ufer, er wetzt seinen Dolch", schrieb damals der russische Dichter Lermontow. Und Puschkin reimte: "Einen Dolch weiß ich zu gebrauchen, im Kaukasus bin ich geboren." Beide wussten, wovon sie sprachen, hatten sie doch im 19. Jahrhundert an den zaristischen Feldzügen teilgenommen.

Schon in der klassischen russischen Literatur ist das Bild der Kaukasier ambivalent - zwischen Erschrecken und Bewunderung: Eine gewisse Romantik verklärt die Brutalität zum Freiheitskampf, der Tschetschene als der "edle Wilde", der sich jeder Herrschaft verweigert. Das Bild hat noch heute Bestand, im Westen vielleicht stärker als je zuvor.

Feste staatliche Strukturen hatte diese Region nie, sieht man von der Sowjetmacht ab, die unter Stalin ihre Herrschaft mit unvorstellbarer Brutalität durchsetzte. Im Kaukasus verschwimmen die Grenzen zwischen mehr als 100 Ethnien.

Familienclans und bewaffnete Banden rivalisieren um Macht und Einfluss, und die in zwei Tschetschenien-Kriegen geschlagenen islamistischen Rebellen streben unter Dokka Umarow, unterstützt mit Spenden und Kämpfern aus den Golfstaaten, eine islamisches "Kalifat vom Schwarzen bis zum Kaspischen Meer" an. Auch die Terroristen der deutschen Sauerlandgruppe hatten ursprünglich einen Einsatz für diesen Gottesstaat im Kaukasus geplant.

Seit April ist die Gewalt in Tschetschenien, Dagestan und Inguschetien, den drei muslimischen Republiken der Russischen Föderation, sprunghaft gestiegen. Im April hatte Moskau offiziell das Ende seiner Anti-Terror-Operationen verkündet und die 20 000 Mann starke Sondereinheit des Innenministeriums abgezogen.

Tatsächlich schien damals die Lage in Tschetschenien halbwegs unter Kontrolle. Konnten früher Rebellen-Gruppen noch ganze Ortschaften besetzen, sind heute die nach Inguschetien und Dagestan abgedrängten Banden nur noch zu Terroranschlägen in der Lage. Seit April aber ist die Zahl der Entführungen und Morde extrem gestiegen.

Täglich sterben im Kaukasus Menschen, mehrere hundert seit April, und die Opfer sind fast nie Russen, es sind fast ausschließlich Kaukasier, die den Morden ihrer Landsleute zum Opfer fallen.

Aufmerksamkeit im Westen erregte die Mordserie erst, als mit Natalja Estimirova eine Menschenrechtlerin von "Memorial" getötet wurde. Schon im Juni war der dagestanische Innenminister ermordet worden. Am 22. Juni überlebte der Präsident von Inguschetien, Yunus-Bek Yevkurow, einen Anschlag nur schwer verletzt.

Die Vorsitzende des Obersten Gerichts in Inguschetien wurde ermordet, als sie ihre Töchter zum Kindergarten brachte. Am 10.August töteten Terroristen den Besitzer eines Ladens, der Alkohol verkaufte. Sein Geschäft war eines von dreien, die es in Inguschetien noch wagten, Wodka und Bier offen zu verkaufen. Schon zuvor hatten islamistische Banden durch ihre Morddrohungen ein weitgehendes Alkoholverbot in Restaurants durchgesetzt.

Am 12. August erschossen Terroristen den Bauminister von Inguschetien in seinem Büro. Hintergrund war offenbar, dass Ruslan Amerchanow Korruption bei der Vergabe staatlicher Mittel untersuchte. Am Freitag erschossen Unbekannte sieben Frauen in einer Sauna der dagestanischen Hauptstadt.

Sie blieben namenlos wie Hunderte Polizisten und Privatleute, die seit April fast täglich dem Terror zum Opfer fallen. Allein am Montag starben 19 inguschetische Polizeibeamte bei einem Anschlag. Und niemand rechnet mit einem Ende des Gemetzels.

All den Morden ist gemeinsam, dass es den russischen Behörden nur in Ausnahmefällen gelingt, die Täter zu fassen. Der Kaukasus, von Russland weitgehend den Kaukasiern überlassen, ist zu einem rechtsfreien Raum geworden. Schon jetzt treffen die Folgen selbst Moskau, auf dessen Straßen kaukasische Clans ihre Konflikte mit der Waffe austragen.

"Schritt für Schritt werden in unserem Land Enklaven geschaffen, in denen Willkür herrscht und man alles darf", warnte nach dem Mord an Estimirova der Menschenrechtsbeauftragte des Kreml, Wladimir Lukin. Diese Enklaven seien ansteckend. Wenn die bundesstaatlichen Behörden dem nicht Einhalt geböten, so Lukin, werde sich bald "das ganze Land in eine Enklave der Willkür verwandeln".