Der zweite „Prager Fenstersturz“ in der deutschen Geschichtsschreibung
Friedrich Schiller: Geschichte des 30-jährigen Krieges, 1790
Am 23sten Mai 1618 erschienen die Deputierten bewaffnet und in zahlreicher Begleitung auf dem königlichen Schloss und drangen mit Ungestüm in den Saal, wo die Statthalter Sternberg, Martinitz, Lobkowitz und Slawata versammelt waren. Mit drohendem Tone verlangten sie eine Erklärung von jedem Einzelnen, ob er an dem kaiserlichen Schreiben einen Antheil gehabt und seine Stimme dazu gegeben? Mit Mäßigung empfing sie Sternberg; Martinitz und Slawata antworteten trotzig. Dieses bestimmte ihr Geschick.
Sternberg und Lobkowitz, weniger gehaßt und mehr gefürchtet, wurden beim Arme aus dem Zimmer geführt, und nun ergriff man Slawata und Martinitz, schleppte sie an ein Fenster und stürzte sie achtzig Fuß tief in den Schloßgraben hinunter. Den Sekretär Fabricius, eine Kreatur von Beiden, schickte man ihnen nach. Ueber eine so seltsame Art zu exequieren verwunderte sich die ganze gesittete Welt, wie billig; die Böhmen entschuldigten sie als einen landüblichen Gebrauch und fanden an dem ganzen Vorfalle nichts wunderbar, als dass man von einem so hohen Sprunge so gesund wieder aufstehen konnte. Ein Misthaufen, auf den die kaiserliche Statthalterschaft zu liegen kam, hatte sie vor Beschädigung gerettet.
Ricarda Huch: Der dreißigjährige Krieg, 1912
Die Vertreter der Krone, die bereits im Schlosse versammelt waren, nahmen die ungestümen Fragen der Stände sie wollten wissen, wer den kaiserlichen Drohbrief verfaßt habe, mit anscheinend hochmütiger Gelassenheit und ein wenig hämischer Höflichkeit entgegen; aber sie konnten ihre Unsicherheit und Ängstlichkeit nicht ganz verbergen, die durch das umgehende Gerücht von der Wut und dem gefährlichen Vorhaben der Evangelischen über sie gekommen war. In den feindlichen Blicken, die unter den Fragen und Antworten auf sie gerichtet waren, bemerkten Martinitz und Slawata plötzlich eine böse Lust, die ihnen Entsetzen einflößte. Martinitz wurde bleich, stotterte etwas von der Gerechtigkeit des Kaisers und daß er nicht vom Majestätsbrief abweichen würde, und wich dabei zurück, um durch ein anstoßendes Gemach zu entfliehen; aber schon wurde er umringt, von mehreren Fäusten gepackt und an das offenstehende breite Fenster geschleppt, vor welchem der goldene Mai sich ausbreitete. Unter Sträuben und Zappeln hörte er lautes Brüllen: „Fahre zur Hölle, Teufelsbraten!“, worauf ihm, bevor er noch an der steilen Mauer hinuntersauste, die Sinne vergingen.
Inzwischen hatten schon verschiedene Fäuste den erschrocken zur Flucht sich wendenden Slawata ergriffen und schleuderten den kläglich um Gnade Flehenden dem ersten nach; die beiden Schelme gehören zusammen! hieß es unter höhnischem Gelächter. Den Schreiber der beiden, namens Fabritius, der dem geschwinden Vorgang schlotternd zugesehen hatte, warfen sie nachträglich hinterher, damit er, wie sie ihm lachend zuriefen, sich des fatalen Briefschreibens nicht mehr unterstehen könne.
Der Ausgang dieser raschen Tat war überraschend, indem die drei aus einer Höhe von vierzig Ellen herabgestürzten Männer, durch einen Misthaufen weich aufgefangen, keine Verletzungen erlitten sondern sich vor der Wut ihrer Feinde, die ihnen noch einige Schüsse nachknallten, in das nahegelegene Haus des Popel von Lobkowitz flüchten konnten. Während die Geretteten sich des Beistandes der wundertätigen Mutter Gottes rühmten, erließen die Direktoren eine umständliche Rechtfertigung: sie hätten verräterische Leute, die sie zu Rebellen gegen des Kaisers Majestät hätten machen wollen, nach alter Weise durch die Defenestration justifiziert und hofften, der Kaiser, dessen treue Untertanen sie wären und auch bleiben wollten, werde künftig ihre Anliegen gnädig erhören und die Ungerechtigkeiten abstellen, wodurch der liebe Frieden wieder hergestellt werden könne.
Bernt Engelmann: Wir Untertanen. Ein Deutsches Anti-Geschichtsbuch, 1974
Man muss ihn (Anm. d. Red: den 30-jährigen Krieg) sich als einen mörderischen Kampf zwischen Gangster-Syndikaten vorstellen, der von korrupten Politikern und miteinander um ein unerhört einträgliches Monopol ringenden multinationalen Großkonzernen geschürt, mitgelenkt und nach Kräften ausgenutzt wird. Im Vordergrund aber stehen die nackten Machtinteressen der sich befehdenden Gangsterbosse, die ihre Mordspezialisten und Revolvermänner aus der Unterwelt eines ganzen Kontinents rekrutieren. (. . .) Stellen wir uns also diese heutige deutsche Großstadt samt ihrer weiteren Umgebung vor, wie sie zunächst — es ist ja noch nicht viel passiert — ihr Alltagsleben in gewohnter Weise fortsetzt. Man ist an gelegentliche kleinere Schießereien gewöhnt und nimmt, wenn man davon nicht direkt betroffen oder ihr unfreiwilliger Zeuge geworden ist, nicht sonderlich Notiz davon. In den Zeitungen steht, in einem Bürohaus im Osten der Stadt seien zwei Direktoren des mächtigen Hinz-Konzerns, wahrscheinlich von Agenten der Kunz-Gruppe, aus einem Fenster im dritten Stock geworfen worden, aber glücklicherweise kaum verletzt. Auch habe es wilde Streiks in den Hinz-Betrieben gegeben.
Herfried Münkler: Der dreißigjährige Krieg. Europäische Katastrophe, deutsches Trauma 1618-1648, 2017
Es dürfte sich bei dem Fenstersturz keineswegs um eine spontane, aus Wortwechsel und Handgemenge entstandene Aktion gehandelt haben. Er scheint vielmehr, zumindest in seinen Grundzügen, geplant und vorbereitet gewesen zu sein — von der Konzentration auf Martinitz und Slawata bis zu dem Umstand, dass man gegen die beiden keine Waffen gebrauchte sie nicht mit dem Degen niederstieß oder Pistolen auf sie abfeuerte, sondern „defenestrierte“. Damit wiederholte man einen Vorgang, der sich ziemlich genau zweihundert Jahre vorher ebenfalls in Prag abgespielt hatte: (. . .) Man stellte sich am 23. Mai 1618 also in eine politische Tradition, vollzog gewissermaßen ein spezifisch böhmisches Aufstandsritual und ging davon aus, dass der danach zu erwartende Krieg für die Aufständischen ähnlich erfolgreich verlaufen werde wie die früheren Hussitenkriege.