Die Stunde Null am Niederrhein
Zwei Monate vor der deutschen Kapitulation ging auf dem linken Rheinufer der Zweite Weltkrieg zu Ende. In den Trümmern begann zwischen Angst und Chaos der Kampf ums Überleben.
Krefeld/Mönchengladbach. Am 4. März 1945 besucht der britische Premierminister Winston Churchill in Graefenthal bei Goch die 51. britische Hochland-Division. Knapp vier Wochen zuvor haben Briten und Kanadier von den Niederlanden aus den Angriff auf den nördlichen Niederrhein begonnen und aus mehr als 1300 Geschützen das Trommelfeuer auf die Reste der deutschen 1. Fallschirm-Armee eröffnet, die im Raum Xanten einen letzten Brückenkopf vor dem Rheinübergang nach Wesel hält. Churchill lässt sich in den Reichswald fahren. Britische Kriegsberichterstatter filmen, wie der Premier eine Granate mit einem Stück Kreide beschriftet und eigenhändig abfeuert. Als Gruß an Adolf Hitler.
Für Mönchengladbach, Neuss und Krefeld ist der Krieg da bereits seit Tagen aus. Am 1. und 2. März fallen die Städte kampflos den Amerikanern in die Hände, die von Süden in Richtung Wesel vorstoßen. Bis zum 3. März verteidigt die Wehrmacht noch ihren Rückzug über den Rhein in Uerdingen, dann sprengen deutsche Pioniere die „Adolf-Hitler-Brücke“. Am gleichen Tag treffen in Geldern-Veert an einer Molkerei britische und amerikanische Verbände zusammen und schließen den Ring um die letzten deutschen Verbände auf dem linken Rheinufer.
Damit ist nun für die meisten Niederrheiner der Zweite Weltkrieg zu Ende. Aber sie erleben das Ende nicht als Befreiung. Zunächst herrschen Angst und Chaos. Jetzt kommt es darauf an, den Frieden zu überleben. Mitte März lassen die Amerikaner Uerdingen plötzlich komplett für mehrere Tage räumen und zwingen die Einwohner zur Flucht in das zerstörte Krefeld, in dem nur noch jedes vierte Haus steht. Im Norden, wo die deutschen Fallschirmjäger sich erst am 10. März zurückziehen und die letzte Brücke über den Rhein sprengen, trifft es die Überlebenden weit härter.
Die Bevölkerung aus dem Raum Kleve wird hin und her geschoben und schließlich in Bedburg interniert. 25 000 Niederrheiner werden ohne erkennbares System dort festgehalten. Eine Zeltstadt entsteht, aber teils schlafen auch 60 Menschen in einem Raum auf dem Boden. Dazu kommen Hunger und Krankheiten. Bis in den April hinein dauert das Chaos an.
Das teils rabiate Vorgehen der alliierten Kampftruppen gegen die Zivilbevölkerung — es kommt zu zahlreichen Vergewaltigungen und Übergriffen, bei Racheakten von befreiten Zwangsarbeitern sehen die Soldaten weg — erklärt sich aus der Härte der Rückzugsgefechte der Wehrmacht und den hohen alliierten Verlusten. Allein auf den wenigen Kilometern bis zum Rhein fallen innerhalb von acht Wochen 18 000 alliierte und 22 000 deutsche Soldaten.
Bis in den Sommer 1945 hinein gelingt es Briten und Amerikanern nicht, die Zivilbevölkerung und die Kriegsgefangenen ausreichend zu ernähren. Was sich später in den Lagern unter freiem Himmel auf den Rheinwiesen abspielt, ist kaum zu beschreiben; die Zahl der ohne einen Schuss verstorbenen Gefangenen Wehrmachts-Soldaten schwankt bis heute zwischen 5000 und 40 000. Im März 1945 ordnen die Alliierten zunächst alles dem Ziel unter, mit möglichst geringen Verlusten im Norden den Rhein zu überqueren.
Für die „Operation Plunder“ (deutsch: Plünderung) am 23. März bietet der britische Feldmarschall Bernard Montgomery auf dem linken Rheinufer eine Streitmacht von rund einer Million Soldaten auf: 250 000 Soldaten für den Rheinübergang und den ersten Vormarsch, 750 000 Mann für die weitere Unterstützung. Dazu kommen mehr als 600 Panzer und 30 000 Fahrzeuge, allein 60 000 Tonnen Munition sowie 30 000 Tonnen Brückenbau-Material.
In der linksrheinischen Trümmer-Landschaft zwischen Koblenz und Emmerich leben im Frühling 1945 noch rund drei Millionen Menschen — halb so viele wie vor dem Krieg. Wer keine Lebensmittel gehortet hat, muss mit weniger als 1000 Kalorien am Tag auskommen. Es grenzt an ein Wunder, dass in den gefährlichen, teils kaum betretbaren Ruinen-Städten keine Seuchen ausbrechen. Der Schriftsteller George Orwell schreibt als Kriegsberichterstatter für den „Observer“ Anfang März aus dem völlig zerstörten Köln über die Deutschen: „Es ist seltsam zu denken, dass dies die Menschen sind, die einmal Europa vom Kanal bis zum Kaspischen Meer beherrscht haben.“ Sie seien „in keiner Weise außergewöhnlich.“
Einen Tag, bevor den Amerikanern bei Remagen am 7. März 1945 eine intakte Eisenbahnbrücke über den Rhein in die Hände fällt, sinnt Joseph Goebbels im fernen Berlin auf Rache. Der Propagandaminister des untergehenden Naziregimes empfindet es als „beschämend und demütigend“, dass die Bürger in seiner Geburtsstadt Rheydt die Amerikaner am 1. März mit weißen Fahnen empfangen haben — und plant akribisch einen (letztlich scheiternden) Mord: Er will den von den Amerikanern zum Oberbürgermeister ernannten Verwaltungsdirektor Heinrich Vogelsang durch ein „Werwolf“-Kommando umbringen lassen.
„Ich kann mir das nicht recht vorstellen, vor allem auch nicht, dass eine solche weiße Fahne auf meinem eigenen Geburtshaus geweht habe“, schreibt Goebbels in sein Tagebuch, „aber ich werde, wenn wir nach Rheydt zurückkommen, diesen Fall aufzuklären versuchen.“