Die Türkei nach dem Putschversuch Die Türkei ist unter Erdogan auf dem Weg zur Diktatur
In der Türkei wurde am Mittwochabend der Ausnahmezustand verhängt. Präsident Recep Tayyip Erdogan erhält damit über drei Monate lang zusätzliche Befugnisse, Freiheiten einzuschränken und Gesetze zu erlassen. Dr. Burak Copur, Politikwissenschaftler und Türkei-Experte am Institut für Turkistik der Universität Duisburg—Essen, sagt, Erdogan baue damit seine Alleinherrschaft aus.
Essen. In der Türkei wurde am Mittwochabend der Ausnahmezustand verhängt. Präsident Recep Tayyip Erdogan erhält damit über drei Monate lang zusätzliche Befugnisse, Freiheiten einzuschränken und Gesetze zu erlassen. Dr. Burak Copur, Politikwissenschaftler und Türkei-Experte am Institut für Turkistik der Universität Duisburg—Essen, sagt, Erdogan baue damit seine Alleinherrschaft aus.
Ausnahmezustand — was bedeutet das für die Türkei?
Burak Copur: Vor allem bedeutet das einen Machtzuwachs für Präsident Erdogan und mehr Unterdrückung und Repression für die Opposition. Faktisch setzt Erdogan mit dem Ausnahmezustand das Parlament außer Kraft. Er kann während der Zeit Verordnungen erlassen, die Gesetzeskraft haben und nicht vom Verfassungsgericht kassiert werden können.
Laut Regierung sollen die Eingriffe nur Staatsbedienstete betreffen, nicht die Bürger.
Copur: Das kann man nicht voneinander trennen. Der Ausnahmezustand betrifft natürlich die Menschen, die im Staat leben und arbeiten. Über 65 000 Menschen wurden suspendiert oder verhaftet. Es wird vermutlich Ausgangssperren, Einschränkungen der Versammlungsfreiheit und Ausreiseverbote geben. Das sind massive Einschränkungen der Grundrechte.
In den Medien sieht man vor allem Bürger, die die türkische Flagge schwenken und Erdogan feiern.
Copur: Natürlich, die säkularen Kräfte, die liberalen Bürger und Oppositionellen halten sich zurück. Sie haben Angst und wollen mit den Leuten nichts zu tun haben.
Wovor genau?
Copur: Es ist wie in den 30er Jahren in Deutschland. Es gibt massenhafte Verhaftungen und Entlastungen. Die Erdogan-Anhänger ziehen als Schlägertrupps durch die Straßen und verbreiten Angst und Schrecken. Die Menschen fürchten um ihr Leben. Sie haben doch alle gesehen, was das Regime mit den Kurden im Südosten des Landes angestellt hat. Die Wohngebiete sehen aus wie die zerschossenen Städte in Syrien. Das Regime wendet brutale Gewalt gegen Andersdenkende und die kurdischen Minderheiten an.
Warum macht die Türkei das mit?
Copur: Es gibt einen Führerkult um Erdogan. Er schafft es, Religion und Politik geschickt zu verknüpfen und den Islam für machtpolitische Zwecke zu instrumentalsieren. Die Menschen sehen ihn als Heilsbringer. Sie sind bereit, für ihn zu sterben. Sie warten nur auf ein Signal.
Hat der Putschversuch Erdogan geschwächt?
Copur: Nein, im Gegenteil. Der Putschversuch hat Erdogan gestärkt. Erdogan kann sich jetzt als Retter der Demokratie darstellen. Die Machtübernahme ist glücklicherweise gescheitert. Dafür ist jetzt eine zivile Diktatur im Kommen. Jetzt kann er seinen Durchmarsch zur Alleinherrschaft fortsetzen.
Wieso sagen Sie glücklicherweise?
Copur: Wenn der Putsch erfolgreich gewesen wäre, hätte es einen Bürgerkrieg gegeben. Aktuell gibt es 50 Prozent AKP-Wähler in der Türkei. Die wären auf die Straße gegangen. Das wäre dann wahrscheinlich wie beim Militärputsch in Ägypten brutal niedergeschlagen worden.
Erdogan hat die Türkei wirtschaftlich nach vorne gebracht, die Verhandlungen mit der EU begonnen — jetzt geraten diese ins Wanken und die Ratingagenturen stufen die Türkei herab.
Copur: Das ist ihm völlig egal. Er peilt ein Präsidialsystem an. Alles andere ist ihm nachrangig. Aber es kann sein, dass die Rechnung nicht aufgeht, wenn die Wirtschaft schwächelt und es den Menschen schlechter geht. Eine schwächelnde Wirtschaft ist die Achillesferse des Erdogan-Regimes.
Auch in Deutschland gibt es viele Anhänger Erdogans. Welche Auswirkungen wird der Konflikt hier haben?
Copur: Je mehr sich der Konflikt in der Türkei radikalisiert, desto mehr wird es zum Export der innertürkischen Konflikte nach Deutschland kommen. Man sieht das schon an dem Angriff auf das Jugendzentrum in Gelsenkirchen, das der oppositionellen Gülen-Bewegung nahesteht. Solche Vorfälle werden wahrscheinlich zunehmen.
Die Türkei befindet sich immer noch in den Beitrittsverhandlungen mit der EU.
Copur: Die EU-Beitrittsverhandlungen sind eine Farce. Das Erdogan-Regime ist Lichtjahre von europäischen Werten entfernt. Die Türkei verabschiedet sich doch gerade von allen europäischen und westlichen Prinzipien. Der Kahlschlag im Staat ist mit demokratischen Prinzipien nicht vereinbar.
Glauben Sie denn, dass es noch eine Chance auf einen Beitritt der Türkei zu EU gibt?
Copur: Nein. Unter Erdogan wird es keinen EU-Beitritt der Türkei geben.
Was kann die EU tun?
Copur: Sie sollte die Verhandlungen nicht von selbst beenden. Das würde nur Erdogan innenpolitisch in die Hände spielen Sollte das Regime aber die Todesstrafe einführen, wäre die rote Linie der EU erreicht. Man darf nicht vergessen, dass die Türkei nicht nur Erdogan ist. Es sollte vor allem Unterstützung für die Opposition von CHP und HDP und für die liberale Zivilgesellschaft geben.
Rechnen Sie mit der Wiedereinführung der Todesstrafe?
Copur: Mich würde in der Türkei gar nichts mehr wundern.