Egon Bahr: „Russlands Reaktion war etwas brutal“
Interview: SPD-Außenpolitiker Egon Bahr zeigt aber Verständnis für das Moskauer Vorgehen im Kaukasus und kritisiert den Westen.
Düsseldorf. Herr Bahr, bald wird Franz Müntefering wieder der neue alte Vorsitzende der SPD sein. Ist ein 68-Jähriger aus der Perspektive eines 86-Jährigen ein Hoffnungsträger?
Bahr: Naja, wenn ich an Adenauer denke, dann war jeder, der 20Jahre jünger war, für ihn ein Kind. Das würde ich jetzt im Verhältnis zu Franz Müntefering natürlich nicht behaupten. Sagen wir es so: Er gehört zu einer jüngeren Generation, die langsam alt wird.
Gibt es eigentlich den berüchtigten "Münte-Effekt" oder ist das nur eine dumme Erfindung der Medien, wie manche behaupten?
Bahr: Das kann ich nicht sagen. Müntefering ist ein treuer, hart arbeitender Parteisoldat. Darum genießt er so viel Respekt in und außerhalb der SPD.
Frank-Walter Steinmeier ist nun offiziell Kanzlerkandidat der SPD. In Russland hat man seine Nominierung wohlwollend zur Kenntnis genommen. Russische Kommentatoren schrieben, der deutsche Außenminister sei in seiner Haltung gegenüber Moskau deutlich "ausgewogener" als die Bundeskanzlerin. Stimmt die Analyse?
Bahr: Jedenfalls ist für Steinmeier der Begriff der "strategischen Partnerschaft" mit Russland nicht nur eine Redensart, sondern beschreibt eine Art der Zusammenarbeit, die unabhängig ist von Tagesaktualitäten. Unbestritten gibt es Stabilität und Sicherheit in Europa nicht ohne oder gegen Russland - ich füge hinzu, um Missverständnisse zu vermeiden, natürlich auch nicht ohne oder gegen Amerika. Das wird Frau Merkel nicht grundsätzlich anders sehen. In ihrer ersten Regierungserklärung hat sie sich die strategische Partnerschaft zu eigen gemacht.
Sie haben in einem Interview mit der "Welt" gesagt, Russland müsse sich nach seinen Traditionen entwickeln, und Demokratie gehöre nicht dazu. Was haben Sie damit gemeint?
Bahr: Ich kann mich dieser Aussage nicht rühmen, sondern sie stammt von George Bush, dem Älteren, den ich auch heute noch schätze. Damit ist gemeint, dass 500 Jahren lang erst die richtigen, dann die roten Zaren in Russland regiert haben. Und dann kam ein Mensch, der Jelzin hieß, und bestimmte, dass Russland nun eine Demokratie sei. Wo soll das herkommen? Vielleicht werden die Enkel Putins in einer russischen Demokratie leben. Aber auch dann wird es sich nicht um eine Demokratie im westeuropäischen oder amerikanischen Sinn handeln.
Gerhard Schröder hat Putin als "lupenreinen Demokraten" beschrieben.
Bahr: Ich glaube nicht, dass Gerhard Schröder das Wort noch einmal benutzen würde.
Und das ist auch gut so?
Bahr: Ja, weil es falsch war. Putin war nie ein lupenreiner Demokrat. Er kann es gar nicht sein. Aber das ist auch gar nicht so wichtig. Viel wichtiger ist, dass sich Russland zu einem Rechtsstaat entwickelt. Mit dem Rechtsstaat fängt der Weg zur Demokratie an. Wir hatten doch selbst vor nur hundert Jahren im Kaiserreich keine Demokratie. Aber wir hatten einen Rechtsstaat.
Der Kaukasus-Konflikt hat den Blick auf ein angeblich imperialistisches, brutales Russland gelenkt. Wer war aus ihrer Sicht der Aggressor?
Bahr: Es ist heute unbestreitbar, dass die Aggression von dem georgischen Präsidenten Saakaschwili ausging.
Und die Reaktion Russlands?
Bahr: Die Reaktion war, wie russische Reaktionen in solchen Fällen sind, überdimensioniert und ein bisschen brutal.
Klingt etwas verharmlosend, wie Sie das formulieren.
Bahr: Die Russen waren böse und sauer und haben geantwortet, wie es ihnen ums Herz war, nachdem russische Soldaten durch georgische Soldaten in Südossetien getötet worden waren.
Passte es den Russen nicht auch gut in den Kram, einen Vorwand zu haben, um dem Westen und den eigenen Nachbarstaaten Stärke zu signalisieren?
Bahr: Bei dieser Betrachtung ist eine Menge Heuchelei des Westens im Spiel. Seit 1992 gehören Südossetien und Abchasien de facto nicht mehr zu Georgien. Darum hat sich der Westen nicht gekümmert. Allerdings hat Russland einen Fehler gemacht, indem es die beiden Regionen zu unabhängigen Staaten erklärt hat. Das kann kein Staat allein tun, auch Russland nicht. Zu den großen Hinterlassenschaften der deutschen Ost- und Entspannungspolitik ...
... deren Architekt Sie waren ...
Bahr: ... gehört die Vereinbarung mit der Sowjetunion, dass Grenzen in Europa nur im gegenseitigen Einvernehmen geändert werden können. Das gehört zum europäischen Grundgesetz für Sicherheit und Stabilität. Dieses Grundgesetz ist erstmals durch 40 Staaten - darunter Deutschland - verletzt worden, als sie den Kosovo als unabhängig anerkannt haben. 160 Staaten haben das nicht getan, folgerichtig ist das Kosovo nicht Mitglied der Vereinten Nationen. Kein Staat und keine Staatengruppe kann im Alleingang andere Staaten amputieren, indem es Teile als unabhängig anerkennt.
Ihr alter Parteifreund Erhard Eppler hat gesagt, er halte es für wahrscheinlich, dass die US-Militärberater in Georgien und damit auch Washington von den Kriegsvorbereitungen Saakaschwilis wussten. Sehen Sie das auch so?
Bahr: Die Lebenserfahrung besagt, dass es völlig unvorstellbar ist, dass 150 US-Militärberater nicht wissen, was in einem so kleinen Land wie Georgien passiert. Was im Detail vorgegangen ist, weiß ich nicht.
Was könnte die Amerikaner bewegt haben, Georgien freie Hand zu lassen? Ihnen musste doch klar gewesen sein, dass dieses militärische Abenteuer nur in einer Niederlage münden kann.
Bahr: Ich kann da nur spekulieren. Vielleicht hat die amerikanische Regierung damit gerechnet, dass in Zeiten der Spannung die Neigung gering ist, einen neuen Mann zum US-Präsidenten zu wählen, der unerfahren ist, und die Neigung zunimmt, sich lieber für einen alten, erfahrenen Haudegen zu entscheiden.
In den Umfragen hat John McCain Barack Obama bereits hinter sich gelassen.
Bahr: Falls das die Kalkulation gewesen ist, dann wäre sie bis jetzt aufgegangen.
Das ist eine interessante Spekulation, die aber auch - gegenüber der amerikanischen Regierung - etwas bösartig ist.
Bahr: Die ist nicht bösartig, sondern realistisch.
So sind die Amerikaner?
Bahr: Ich bin nicht antiamerikanisch. Antiamerikanismus ist dumm. Ich sehe Realitäten. Und zu den Realitäten gehört, dass der amerikanische Vize-Präsident in dieser Situation sagt, ihm sei an der Einkreisung Russlands gelegen. Entspannungspolitik sieht anders aus.
Herr Bahr, Ihr Alter hatte ich unfreundlicherweise anfangs schon genannt. Wie lange noch werden Sie politisch aktiv sein?
Bahr: Das kann ich Ihnen ehrlich nicht beantworten. Das hängt davon ab, ob mein Verstand weiter mitmacht. Der macht ja keinen Urlaub. Seit 40 Jahren verfolge ich, ob es den Europäern endlich gelingt, mit einer Stimme zu sprechen. Die Neugier, wann sie das schaffen, bleibt groß.