Interview Ein Gespräch über das Sterben

Der Autor Roland Schulz hat das Buch „So sterben wir“ geschrieben. Schonungslos, mit allen Einzelheiten. Ein Gespräch über den Tod, über alles, was wir über ihn wissen – und wie wir mit ihm umgehen.

„Es geht um Sterben, aber nicht irgendein Sterben. Es geht um dein Sterben“: Eine Blume liegt auf einem Sarg bei einem Bestatter. Der Autor des Buchs „So sterben wir“ hat das Thema in allen Facetten behandelt. Das mag manchem zu viel, bisweilen aber auch tröstlich sein.

Foto: dpa/Sophia Kembowski

Herr Schulz, ich habe eine Kritik Ihres Buches gelesen, die geht so: „So sterben wir“ ist ein furchtbares und ein grandioses Buch. Ich habe es nicht gerne gelesen, bin aber heilfroh, es gelesen zu haben. Wissen Sie, was der Autor meint?

Roland Schulz: Ich vermute, der Kritiker zielt darauf ab, dass mein Buch Sterben und Tod sehr unmittelbar schildert – ich spreche den Leser ja direkt an, ich schreibe: Du bist es, der seinen letzten Atemzug macht, Du wirst in den Sarg gebettet, Dein Haar fängt im Ofen des Krematoriums Feuer. Es fällt nicht leicht, das zu lesen. Aber es ist eben der entscheidende Punkt: Wir alle werden sterben, ausnahmslos. Ich hoffe, der Kritiker war deswegen froh, es dennoch gelesen zu haben, weil es wenig hilft, vor Sterben und Tod vollkommen die Augen zu verschließen – und weil etwas darüber zu erfahren manche Ängste mildern kann.

Sie muten dem Leser viel zu. Haben Sie das auch selbst empfunden? Oder begegnen Sie dem Tod mit Leichtigkeit?

Schulz: Ich bin mir nicht sicher, ob man dem Tod mit Leichtigkeit begegnen kann. Aber ich kann versuchen, mich ihm zu nähern. Leicht ist es mir nicht gefallen.

Warum sprechen Sie den Leser als Sterbenden das ganze Buch hindurch in der direktesten aller Formen an?

Schulz: Als ich anfing, mich mit Sterben und Tod zu beschäftigen, erlebte ich an mir selbst einen seltsamen Effekt: Ich las Artikel aus dem Archiv darüber, die mich zum Teil zu Tränen rührten – aber im Augenblick, als ich zu Ende las, trat eine Art von erbarmungsloser Reflex ein, eine klammheimliche Distanzierung. Das ist dieses stille Gefühl: Na, bin ja nicht ich! Die Wahrheit ist jedoch: Doch, das bin ich, eines Tages. Ich habe dann überlegt, ob ich es irgendwie schaffen kann, diesen Reflex zu überlisten, wenigstens erzählerisch. Ich entschied mich, den Leser direkt anzusprechen. Ich wollte Sterben und Tod so schildern, dass klar wird: Es geht um Sterben, aber nicht irgendein Sterben. Sondern dein Sterben.

Sie sprechen von der krummen Kommunikation des Sterbenden. Was meinen Sie damit?

Schulz: Manchmal scheuen nicht nur Sterbenskranke, sondern auch ihre Freunde oder Angehörigen davor, die Tatsache auszusprechen: Ich werde sterben, Papa wird sterben. Sie schleichen wie sprachlos darum herum. Oder Angehörige sprechen in einer Art Doppeldenk: Sie sagen, du musst kämpfen, obwohl klar ist, einen Sieg über den Tod kann es nicht geben, nicht in diesem Fall, im Grunde nie. Das habe ich versucht, mit diesem Begriff von krummer Kommunikation zu fassen.

Was steht auf der Checkliste für Sterbende?

Schulz: Checkliste klingt, als ob man Sterben planen könnte wie eine Reise ins Ausland – das geht aber nicht. Sterben ist komplex, Sterben ist individuell. Möglich ist aber – und zwar für jeden Menschen, auch in voller Gesundheit –, sich Gedanken über sein Sterben und seinen Tod zu machen: Wie möchte ich, dass Ärzte in lebensbedrohlichen Situationen mit mir umgehen, vor allem dann, wenn ich es selber nicht mehr entscheiden kann? Das kann ich in einer Patientenverfügung festsetzen. Wie will ich nach meinem Tod bestattet werden – will ich begraben werden, will ich verbrannt werden? Kann ich auch festsetzen. Oder mit meinen Kindern darüber sprechen, wie ich mir und wie sie sich den Abschied vorstellen. Darüber sprechen ist sowieso gut, wenn es um das Sterben geht.

Was macht das Sterben für uns so schwierig?

Schulz: Da gibt es einige Gründe. Eine Antwort: Sterben ist schwer zu greifen. Ein Beispiel: Wann beginnt das Sterben denn? Kommt ganz darauf an, wen ich frage. Ein Biologe sagt vielleicht, schon vom Zeitpunkt unserer Geburt an sterben Zellen in unserem Körper, zu abertausenden. Ein Soziologe denkt womöglich an den sozialen Tod, also das Phänomen, dass wir Schwerstkranke häufig schon wie hinfällig, wie gestorben behandeln. Ein Statistiker, der Totenscheine auswertet, sagt dagegen: Mit dem Einsetzen des Grundleidens – also jener Krankheit, die am Anfang des Prozesses steht, der mir eines Tages den Tod bringen wird. Das kann Jahre vor dem Eintritt des Todes sein, zu einer Zeit, in der ich mich selbst noch ganz und gar nicht als sterbend begreifen würde.

Was haben Sie an Details für den konkreten Sterbevorgang herausgefunden?

Schulz: Jeder Mensch stirbt seinen eigenen Tod. Ärzte und Pfleger achten aber auf einige Veränderungen, die viele Sterbende durchmachen: Viele Sterbende gleiten am Ende in eine Art Dämmer, eine Bewusstlosigkeit schwankender Tiefe – sie trüben ein, sagt man. Der Kreislauf wird schwächer, Finger und Zehen werden kalt, die Haut ist ganz blass. Oft ändert sich das Muster des Atems. Oder es kommt, weil der Hustenreflex versagt, zu einem rasselnden Atem. Das bedeutet aber nicht, dass jeder Sterbende diese Merkmale zeigen muss, schon gar nicht jedes einzelne.

Sterben entblößt Dich, schreiben Sie. Warum?

Schulz: Sterben streift Menschen nach und nach alle Rollen ab, die sie im Leben inne hatten. Ganz egal, wie sie sich selber gesehen haben oder gesehen wurden - als Mutter, als Lehrer, als Könner, Witzbold, Experte, was auch immer -, alle diese Rollen schwinden. Das meine ich damit: Sterben entblößt dich, bis allein bleibt, wie du bist, abseits aller Rollen.

Was haben Sie aus den Recherchen für Ihren eigenen Tod mitnehmen können?

Schulz: Ich versuche, mit weniger Sorgen im Alltag zu machen. Und, ganz handfest: Ich dachte früher, nach dem Tod lieber eingeäschert zu werden. Jetzt möchte ich begraben werden. Weil ich bei der Recherche den Eindruck hatte: Eine Kremierung hat etwas von einem industriellen Prozess, am Ende bleiben ein paar Kilo Asche – also lieber begraben werden.

Welche Recherche hat Sie wirklich mitgenommen?

Schulz: Mitgenommen hat mich vieles, geht wahrscheinlich gar nicht anders. Als ich bei einem Bestatter mitarbeitete, erlebte ich das Waschen, Versorgen und dann Beisetzen von kleinen Kindern, die gestorben waren. Das ist unfassbar traurig.

Was hat Ihnen Mut gemacht oder Schrecken genommen?

Schulz: Naja, ich glaube, wenn ich einmal die Nachricht bekomme, dass ich sterbenskrank bin, wird mich das trotz aller Beschäftigung damit umwerfen. Aber ich habe im Lauf meiner Recherchen auch einen eigenartigen Eindruck von Ruhe gewonnen: Sterben und Tod – so schrecklich es uns scheint – sind eben etwas vollkommen alltägliches, etwas völlig normales, was schon Milliarden Menschen vor uns erlebt haben. Und eines Tages werde ich es ebenfalls erleben.

An welcher Stelle waren Sie von Ihren Erkenntnissen überrascht?

Schulz: Ich war überrascht, wie lange es dauert, bis ein Verstorbener auch amtlich als tot betrachtet wird. So muss der Leichenbeschauer – das ist der Arzt, der den Tod feststellt – erstmal drei, vier Stunden warten, bis sich sichere Todeszeichen zeigen. Erst wenn er sie feststellt, kann er den Totenschein ausstellen, der bescheinigt, dass der Verstorbene aus Ärztesicht tot ist. Aber in den Augen des Staates – also in Melderegistern oder Wählerlisten – ist er gewissermaßen noch am Leben. Bis er da überall als tot anerkannt wird, vergehen Wochen.

Manchmal erscheint es, als könnten Sterbende den Zeitpunkt ihres Todes beeinflussen, schreiben Sie. Wie?

Schulz: Das hat nichts wundergleiches, dieses Phänomen. Es ist lediglich so, dass erfahrene Ärzte sagen: An Sterbebetten bin ich oft überrascht worden, weil sie damit rechneten, ein Schwerstkranker stirbt binnen weniger Stunden, aber dann schien er auszuharren, weil er wusste, meine Kinder sind auf dem Weg, um sich zu verabschieden. Oder: Angehörige wachen am Sterbebett und ausgerechnet in dem Augenblick, als sie auf Toilette müssen, stirbt der Kranke.

Welche Antworten haben sie nicht gefunden?

Schulz: Anfangs hatte ich die etwas naive Vorstellung, Sterben so durchdringen und verstehen zu können wie eine Maschine, einen Motor. Ich habe dann schnell gemerkt, das ist unmöglich.

Entdecken sie bei Sterbenden Angst und Beschwernis oder auch Leichtigkeit?

Schulz: Ich glaube, schon im Wort „Entdecken“ liegt eine der großen Herausforderungen beim Thema Sterben: Alle Eindrücke, die ich über einen Sterbenden – gerade wenn er schon eingetrübt ist – gewinnen kann, sind Eindrücke von außen, und noch dazu von jemandem, der eben nicht im Sterben liegt. Wie es dem Sterbenden wahrhaftig ergeht, was er fühlt, das kann ich im Grunde gar nicht entdecken. Erfahrene Ärzte raten deswegen dazu, Sterbenskranken immer mit Demut und Respekt zu begegnen.

Was beginnt mit dem Tod?

Schulz: Auf eine handfeste Art: eine Reise. Denn in Deutschland gibt es eine stattliche Reihe von Vorschriften, wie mit einem Leichnam zu verfahren ist. Und deswegen durchläuft jeder Verstorbene nach seinem Tod eine Reihe von Stationen: Ein Leichenbeschauer stellt seinen Tod fest und den Totenschein aus, ein Bestatter bettet ihn in einen Sarg und überführt den Leichnam. Bis hin zur Bestattung.

Warum haben Sie ein Buch über das Sterben geschrieben?

Schulz: Als der Bundestag vor ein paar Jahren über die Sterbehilfe diskutierte, hatte ich den Eindruck: Es gibt jetzt Meinungsumfragen dazu, Artikel, Talkshows, alle reden vom Sterben, aber was ist das denn eigentlich? Also habe ich mich auf die Suche gemacht.

Und was haben Sie vom Tod für das Leben gelernt?

Schulz: Was bis heute über meinem Bildschirm hängt, an dem ich schreibe: ein Comic, den ich bei einem Bestatter sah. Charly Brown sagt zu Snoopy: „Eines Tages werden wir alle sterben!“ Snoopy antwortet: „Stimmt. Aber an allen anderen Tagen nicht.“