EU will Schengen-Regeln ändern
Brüssel/Berlin (dpa) - Die EU-Staaten wollen neue Regeln für eine zeitweilige Wiedereinführung von Grenzkontrollen in Europa. Die Mehrheit der 27 EU-Innenminister erklärte sich bereit, Grenzkontrollen in Ausnahmefällen künftig auch bei starkem „Migrationsdruck“ zuzulassen.
Zugleich betonten sie die Bedeutung des unkontrollierten Reisens in den 25 Staaten des sogenannten Schengen-Raumes. Dies sei eine der wichtigsten Errungenschaften Europas. Grenzkontrollen dürfe es auch künftig nur in besonderen Notfällen geben.
Nach heftiger Kritik aus zahlreichen EU-Staaten versicherte der dänische Integrationsminister Søren Pind, seine Regierung beabsichtige nur gezielte Zollkontrollen und nicht die Wiedereinführung genereller Personen-Überprüfungen. Dänemark werde in Kürze unter anderem an der Grenze zu Deutschland eine ständige Zollkontrolle vornehmen. „Eine starke Zollkontrolle widerspricht dem Schengen-Abkommen nicht und ist im Gegenteil ein wichtiger Teil im Kampf gegen das grenzüberschreitende Verbrechen“, sagte Pind. „Das ist viel Lärm um Nichts.“
Bundesaußenminister Guido Westerwelle hatte zuvor von Kopenhagen Aufklärung über die geplante Wiedereinführung von Grenzkontrollen gefordert. In einem Telefonat mit der dänischen Außenministerin Lene Espersen äußerte er sich besorgt darüber, dass die Grenzkontrollen die Reisefreiheit in Europa beeinträchtigen könnten. „Wir dürfen hier und heute nicht das aufs Spiel setzen, was wir in Jahrzehnten der Entwicklung der Europäischen Union zum Wohle aller Bürgerinnen und Bürger erreicht haben“, sagte Westerwelle. Die Reisefreiheit dürfe nicht aus innenpolitischen Gründen geopfert werden.
Die Mitte-Rechts-Minderheitsregierung in Dänemark, die auf die Rechtspopulisten im Parlament angewiesen ist, hatte am Mittwoch die Einführung von ständigen Zollkontrollen erklärt. „Dass wir nicht begeistert waren von der Meldung "Dänemark will wieder Schlagbäume einführen", das kann man auch in Dänemark verstehen“, sagte der deutsche Innenminister Hans-Peter Friedrich in Brüssel.
Er zeigte sich besorgt darüber, dass unter innenpolitischem Druck Grenzkontrollen eingeführt werden: „Weil das natürlich dazu führt, dass auch in anderen Staaten der Druck wächst und die kritische Nachfrage der Bevölkerung kommt: Wieso wird denn in anderen Staaten kontrolliert und bei uns nicht?“ So werde „eine Spirale in Gang gesetzt“, die geeignet sei, „das, was wir alle wollen, nämlich Reisefreiheit, doch zunichte zu machen“.
Auch der französische Innenminister Claude Guéant formulierte seine Kritik an Dänemark indirekt: „Die Krisen in einem Raum ohne Grenzkontrollen können nicht im Alleingang gemanagt werden.“ Friedrich sprach von „einem innenpolitischen Druck, der da aufgebaut wird“. Bei Entscheidungen über zeitweilige Personenkontrollen habe man bisher sehr verantwortungsbewusst gehandelt: „Und jetzt sieht es so aus als ob man sich nicht mehr darauf verlassen kann, dass jeder seine europäische Brille aufsetzt bei der Beurteilung.“
„Wir brauchen mehr Klarheit über die Regeln und Klarheit über die Verfahren, um einseitige und unkoordiniertes Handeln einzelner Mitgliedstaaten zu vermeiden“, sagte die für innere Sicherheit zuständige EU-Kommissarin Cecilia Malmström zur Revision des Schengen-Vertrages. Grenzkontrollen, die bisher nur bei einer Gefährdung der inneren Sicherheit möglich sind, dürften „nur die letzte Maßnahme unter strikten Voraussetzungen und gemäß klaren Regeln sein“.
Friedrich sagte, denkbar seien künftig Grenzkontrollen beispielsweise, „wenn durch Migration oder Massenzuwanderung zu befürchten ist, dass logistische Wege für Terrororganisationen geöffnet werden“. Er beharrte darauf, dass die einzelnen Regierungen über Grenzkontrollen entscheiden müssten. In dieser Frage gibt es einen Konflikt mit der EU-Kommission: „Wir denken, das sollte auf europäischer Ebene entschieden werden“, sagte Malmström.
Nach Angaben von EU-Diplomaten plädierten mindestens 15 Innenminister am Donnerstag grundsätzlich für Änderungen. Zypern lehnte als einziges EU-Land eine Änderung des jetzigen Schengen-Kodex strikt und eindeutig ab. Belgien, Malta und Spanien seien sehr zurückhaltend gegenüber Änderungen. Nach Angaben von Diplomaten gab es keine Angebote von EU-Staaten, Italien einen Teil jener Flüchtlinge abzunehmen, die seit Jahresanfang aus Nordafrika nach Europa kamen.
Nach Ansicht des Staatsministers im Auswärtigen Amt, Werner Hoyer (FDP), ist es höchste Zeit aufzupassen, „dass die europäischen Leuchttürme nicht eingerissen werden“. Die Reisefreiheit innerhalb Europas sei zweifelsohne einer dieser Leuchttürme, sagte Hoyer in Berlin. „Es sind gemeinsame Errungenschaften, die man auch gemeinsam gegen populistische Strömungen verteidigen muss.“
Der außenpolitische Sprecher der CDU im Europaparlament, Elmar Brok, forderte Konsequenzen für Kopenhagen. Dänemark verstoße mit permanenten Grenzkontrollen gegen das Schengen-Abkommen und die europäischen Binnenmarktregeln. „Die EU-Kommission muss einen Mahnbrief schreiben und notfalls die Regierung in Kopenhagen vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg verklagen“, sagte Brok Handelsblatt Online.
„Die Dänen müssen sich entscheiden: Machen sie ernst mit den Grenzkontrollen, müssen sie raus aus dem Schengen-Raum“, sagte der grüne Europa-Abgeordnete Daniel Cohn-Bendit Spiegel Online. „Dann brauchen sie selbst aber auch wieder Visa, wenn sie durch Europa reisen. Für jeden europäischen Staat eins.“