Altkanzler Kohl kritisiert Politik seiner Nachfolger
Berlin (dpa) - Altkanzler Kohl hat sich wiederholt kritisch mit der Amtsführung seiner Nachfolgerin Merkel auseinandergesetzt. Nun wirft er ihr und dem früheren SPD-Kanzler Schröder im gleichen Atemzug vor, keinen politischen Kompass zu haben.
Der Altkanzler ist mit der Außen- und Europapolitik von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und seinem direkten Nachfolger Gerhard Schröder (SPD) hart ins Gericht gegangen. „Deutschland ist schon seit einigen Jahren keine berechenbare Größe mehr - weder nach innen noch nach außen“, beklagte der 81-Jährige in einem am Mittwoch veröffentlichten Interview der Zeitschrift „Internationale Politik“. „Wir müssen aufpassen, dass wir nicht alles verspielen.“ Deutschland und Europa müssten ihre Verantwortung für die Welt „endlich wieder wahrnehmen“, sagte Kohl, der von 1982 bis 1998 Bundeskanzler war.
CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe widersprach Kohls Thesen. Die von dem Altkanzler genannten Grundprinzipien bestimmten auch das Handeln der Merkel-Regierung. SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier spottete dagegen, Kohl halte die Außen- und Europapolitik seiner Nachfolgerin für gefährlich und unberechenbar. „Zu Recht: Der Zerfallsprozess der Koalition hat jetzt auch die Union erreicht.“
Ohne die Kanzlerin direkt zu nennen, beklagte Kohl, der Regierung fehle der politische Kompass. Angesichts der deutschen Enthaltung im UN-Sicherheitsrat zum Libyen-Einsatz der Nato, der Energiewende und dem Verhalten im Zusammenhang mit der Griechenland-Krise und der Euro-Rettung, meinte Kohl, Deutschland habe seinen Kompass verloren. „Wenn man keinen Kompass hat, wenn man also nicht weiß, wo man steht und wo man hin will, und daraus abgeleitet dann entsprechend auch keinen Führungs- und Gestaltungswillen (hat), dann hängt man auch nicht an dem, was wir unter Kontinuitäten deutscher Außenpolitik verstehen, ganz einfach weil man keinen Sinn dafür hat.“
Gröhe sagte der Tageszeitung „Die Welt“ (Donnerstag): „Die von Helmut Kohl genannten Grundprinzipien deutscher Außenpolitik - wie die transatlantische Partnerschaft, die Einigung Europas und die deutsch-französische Freundschaft - bestimmen auch heute das Handeln der Regierung von Angela Merkel.“ Die Vorschläge Merkels und des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy zur Stärkung der Stabilitätskultur in Europa setzten den Weg Kohls und dessen damaligen Finanzministers Theo Waigel (CSU) fort „und korrigieren die falsche Politik von Rot-Grün“.
Kohl bezog sich sowohl auf Entscheidungen der Merkel-Regierungen wie auch auf die Ablehnung des Irak-Kriegs unter Rot-Grün mit Schröder. „Wir müssen wieder und für andere erkennbar deutlich machen, wo wir stehen und wo wir hin wollen“, forderte er. Anderenfalls laufe Deutschland Gefahr, „beliebig und unberechenbar zu werden.“
Als Beleg verwies er darauf, dass US-Präsident Barack Obama bei seiner jüngsten Europa-Visite zwar Frankreich und Polen, nicht aber Deutschland besucht habe. „Nach allem, was wir Deutsche und Amerikaner gemeinsam erlebt und durchlebt haben und was uns bis heute tief verbindet, hätte ich mir nie träumen lassen, dass ich einmal erleben muss, dass ein amtierender amerikanischer Präsident nach Europa kommt und über die Bundesrepublik hinwegfliegt, ich könnte auch sagen, über sie hinweggeht.“
Die Abschaffung der Wehrpflicht unter Merkel bezeichnete Kohl ausdrücklich als Fehler, nahm aber auch die rot-grüne Regierung unter Schröder aufs Korn. Ohne tiefgreifende Reformen hätte Griechenland damals kein Mitglied der Euro-Zone werden dürfen. Trotzdem mahnte der Altkanzler dringend zur Solidarität mit Griechenland und zur Rettung des Euro. „Wir haben keine Wahl, wenn wir Europa nicht auseinanderbrechen lassen wollen“, betonte Kohl. „Europa bleibt gerade auch für Deutschland ohne Alternative.“
Außenminister Guido Westerwelle (FDP) pflichtete Kohl bei. Dieser habe eine „scharfkantige Kritik“ an der frühen Aufweichung des Stabilitätspaktes in der Europäischen Union geübt. „Diese Kritik teile ich ausdrücklich. Es war ein Fehler, in früheren Jahren die Stabilitätskultur aufzuweichen“, sagte Westerwelle am Rande eines Treffens mit seinen baltischen Amtskollegen auf der Insel Rügen.