Corona-Pandemie Das Ende der Einmütigkeit im Bundestag

Berlin · Kanzlerin Merkel macht sich Sorgen, dass die Bundesländer bei den Lockerungen zu forsch vorgehen. In der Debatte um die „Öffnungsdiskussionsorgie“ tun sich derweil immer mehr Fronten auf.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) äußerte sich auch zu den Diskussionen rund um die weitere Lockerung der Beschränkungen.

Foto: dpa/Bernd von Jutrczenka

Vor vier Wochen hatte der Bundestag einmütig das Wirtschafts-Rettungspaket verabschiedet, doch am Mittwoch, in der Debatte um die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, war es mit der Einigkeit vorbei. Mit ihrer Warnung vor „Öffnungsdiskussionsorgien“ in einer CDU-Runde hatte Kanzlerin Angela Merkel (CDU) unabsichtlich selbst zum Widerspruch eingeladen. Vor allem AfD und FDP nahmen dankend an.

Merkel wiederholte die umstrittene Formulierung nicht, stellte aber klar, dass sie damit keine Diskussionen habe abwürgen wollen. „Kritik und Widerspruch sind nicht nur erlaubt, sondern werden auch eingefordert“, sagte sie in ihrer Regierungserklärung. Und ergänzte: „wechselseitig“. Das sollte bedeuten, auch sie habe das Recht, ihre Meinung zu sagen. In diesem Falle: Die vorsichtigen Öffnungsbeschlüsse der vergangenen Woche seien von einigen „zu forsch“ umgesetzt worden, deshalb sei sie in Sorge. Wen die Kanzlerin konkret meinte, sagte sie nicht. Doch aus dem Zusammenhang ergibt sich, dass die Öffnung von Möbelmärkten und Küchenstudios in Nordrhein-Westfalen gemeint sein könnte. Oder die sofort entflammte Debatte um Kitas und Kneipen.

Auffällig war, dass Merkel versuchte, nicht als knallharte Verbotspolitikerin dazustehen. Sie verstehe, wie sehr alle unter den Einschränkungen litten, sagte sie, und widmete sich in einer lange Passage besonders emphatisch der Lage der Menschen in den Altersheimen. Die Einsamkeit dort sei „grausam“, „das belastet auch mich persönlich“, betonte sie. Aber man brauche jetzt Ausdauer und Disziplin.

Linke und Grüne unterstützen Merkels Kurs

Rückhalt bekam Merkels Kurs einer nur vorsichtigen Öffnung nicht nur von den Koalitionsfraktionen Union und SPD, sondern auch von Linken und Grünen. Viele Redner teilten die Einschätzung der Kanzlerin, dass man erst am Anfang der Pandemie stehe und sich „auf dünnstem Eis“ bewege. Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter sprach fast wortgleich von einer „weiterhin sehr fragilen Lage“. SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich nannte die Beschlüsse „angemessen“, und sein Unionskollege Ralph Brinkhaus (CDU) mahnte, die erreichten Erfolge nicht wieder durch Ungeduld einzureißen. Der Linken-Fraktionsvorsitzende Dietmar Bartsch lobte die Krisenbewältigung als „weitgehend passabel“, forderte aber bei den Spielplätzen mehr Liberalität. Merkel verfolgte die gesamte Debatte ziemlich regungslos. Einmal konnte sie ein deutliches Grinsen aber nicht unterdrücken, fast bekam sie einen Lachkrampf. Das war, als Bartsch den Machtkampf zwischen NRW-Ministerpräsident Armin Laschet und CSU-Chef Markus Söder um die Unions-Kanzlerkandidatur als Quelle der Öffnungsdebatte ausmachte. „Beide sind da leider verhaltensauffällig.“

In Sachen Lockerungen sind im Bundestag nur AfD und FDP die klare Opposition. Beide forderten, alle Geschäfte zu öffnen, auch jene, die größer als 800 Quadratmeter sind, dazu die Gastronomie, „sofern überall die Hygieneregeln eingehalten werden“, wie FDP-Chef Christian Lindner es formulierte. Lindner erklärte die Zeit der Einmütigkeit gar offiziell für beendet: Viele Einschränkungen beruhten nicht auf gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen, „die Zweifel sind gewachsen“. Außerdem müsse man die Maßnahmen viel stärker regional differenzieren. „Eine alternative Krisenstrategie ist möglich und nötig“, so der Oberliberale. Die AfD argumentierte ähnlich, nur härter: Die Bürger hielten die Quarantäneregeln längst freiwillig ein, „der Staat ist dabei überflüssig“, sagte ihr Fraktionschef Alexander Gauland. Besonders kritisierte Gauland, dass in den Küstenländern Zweitwohnsitze gesperrt sind. Nicht das Einsperren der gesamten Bevölkerung sei die Lösung, sondern der Schutz der Risikogruppen. Später hielt ihm SPD-Rednerin Bärbel Bas sein Alter, 79, vor. Die AfD wolle doch nicht etwa ihren Vorsitzenden isolieren, fragte sie.

Bei den finanz- und europapolitischen Fragen verliefen die Fronten anders. So sind sich in Sachen Ablehnung von Eurobonds Union, FDP und AfD weitgehend einig. Union und FDP fordern auch weiter Steuersenkungen, etwa die Abschaffung des Solidaritätszuschlages. SPD und Linke wiederum erheben sozialpolitische Forderungen, und die Grünen wollen, dass bei dem nach der Corona-Krise notwendigen Konjunkturprogramm der Klimaschutz eine starke Rolle spielt. Bei diesen Themen kehrten alle alten Kontroversen der Vor-Corona-Zeit wieder. Eine wird womöglich schon bei der nächsten Bundestagssitzung in zwei Wochen auf der Tagesordnung stehen. Es sei für die SPD „nicht hinnehmbar“, wenn nicht spätestens dann über die Grundrente abgestimmt werde, sagte SPD-Fraktionschef Mützenich. Da droht sogar ein Koalitionskonflikt.