Analyse Das Jamaika-Drama

Berlin (dpa) - „Gäste“. Angela Merkel sagt tatsächlich „Gäste“. Bis morgens um 4.00 Uhr hat die CDU-Chefin 15 Stunden lang mit Horst Seehofer, Christian Lindner, Katrin Göring-Eckardt, Cem Özdemir und den anderen Jamaika-Verhandlungsführern ergebnislos um Kompromisse gerungen.

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Ein paar Stunden später steht sie in der Sonne vor ihrer Parteizentrale und spricht ungerührt den Satz: „Ich freue mich, dass wir heute Gäste im Konrad-Adenauer-Haus haben.“

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Dass die Nacht aber doch Spuren hinterlassen hat, zeigt die Kanzlerin am Ende ihres Mini-Statements, als sie zu ihren Erwartungen kommt: „Es wird sicherlich hart. Aber es lohnt sich, heute Runde zwei noch mal zu drehen.“ Ausgang offen.

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Es gibt Hinweise darauf, dass Merkel auf ihre große Erfahrung mit zermürbenden Verhandlungsnächten vertraut und auf Einigung in der Nacht zum Freitag gesetzt hat. Doch von dieser Illusion muss sich die Kanzlerin wohl schon am frühen Donnerstagnachmittag verabschiedet haben. Da habe es in der Runde der Verhandlungsführer zeitweise Spitz auf Knopf gestanden, sagt einer, der in der Parlamentarischen Gesellschaft (DPG) dabei war.

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Als Merkel dann am Freitagmittag mit den anderen Jamaika-Parteichefs erneut zusammenkommt, wirkt es für manche Beteiligte so, als seien die Verhandlungen gerade erst wirklich losgegangen. Schon der Ort demonstriert, dass die Kanzlerin wohl stärker als zuvor das Heft des Handelns in die Hand nehmen will: Die anderen müssen in ihre Parteizentrale kommen, Merkel verzichtet auf den neutralen Ort der DPG mit dem berühmten Foto-Balkon. Auch das ein Signal.

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In einem Besprechungszimmer im fünften Stock wird Merkel den anderen Parteichefs dann klar gemacht haben, was sie kurz vorher draußen vor der Tür als ihr Ziel beschrieben hat: „Die Aufgabe, eine Regierung für Deutschland zu bilden, die ist eine so wichtige Aufgabe, dass sich die Anstrengung lohnt.“ Obwohl es angesichts der vielen Einzelheiten nicht ganz trivial sei, „die Enden zusammenzubinden“.

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Die Tagesordnung für die Verlängerungsrunden von Freitag bis Sonntag wirkt fast so, als hätten die vier zurückliegenden Sondierungswochen nur Minischritte hin zu einer Einigung gebracht. Geht man den 61 Seiten starken Entwurf für ein gemeinsames Sondierungspapier durch, ist das zwar nicht so, er enthält viel Konsens. Aber in zentralen Punkten stehen sich die ungleichen Partner in spe eben auch noch unversöhnlich und damit meilenweit entfernt gegenüber.

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Nun steigt Merkel wieder in die Verhandlungsroutine ein. Am Mittag erst Einzelgespräche mit Grünen und FDP. Dann stundenlange Runden zu den schwierigsten Sachthemen. Ob es dann endlich versöhnlicher zugeht als in der Marathonnacht von Donnerstag auf Freitag? Da hatte eine derart verzwickte Gemengelage die Gespräche bestimmt, dass es wohl nur bei einem kleinen Wunder eine Einigung hätte geben können.

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Beispiel CSU, wo Horst Seehofer intern in einem Machtkampf mit Markus Söder um seine politische Zukunft ringt. Für Teile der Beteiligten drängt sich in der Nacht der Eindruck auf, der dauerskeptische CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt profiliere sich gegen Seehofer. Es heißt, der CSU-Chef habe sich beim Hauptknackpunkt Familiennachzug beweglicher gezeigt als Dobrindt. Dieser habe zudem darauf bestanden, nicht ein Jota von der harten CSU-Auslegung der 200 000-Regelung beim Zuzug von Flüchtlingen abzuweichen.

Doch selbst in der Schwesterpartei gibt es dazu mindestens zwei Lesarten: Die einen meinen, Dobrindt wolle nur den Preis für eine Einigung hochtreiben und sich nebenbei noch für höhere Ämter wie das des Parteichefs bewerben. Ein harter Kurs gegen Berlin zum Vorteil Bayerns kommt bei den Parteifreunden im Freistaat traditionell immer sehr gut an. Die anderen glauben aber, Dobrindt wolle Jamaika tatsächlich platzen lassen. In der CSU hatten sie sich in der Nacht bemüht, den Eindruck eines Zerwürfnisses zu zerstreuen. Seehofer und Dobrindt stünden einheitlich wie ein Monolith.

Seehofer selbst reagiert kopfschüttelnd und verärgert auf die brodelnde Gerüchteküche. „Vollkommener Blödsinn, Schwachsinn, Unsinn“, nennt er die Aussagen. Er halte eine Einigung weiter für möglich, ein Scheitern aber eben auch. „Wir haben das Ziel, dass wir am Sonntag fertig werden.“ Die Bevölkerung habe einen Anspruch darauf, zu wissen, ob eine Regierungsbildung möglich sei oder nicht.

Beispiel Grüne. Deren Verhandlungsführer Göring-Eckardt und Özdemir hätten sich mit Kompromissangeboten bei der Migration weit vorgewagt, inklusive eines Zugeständnisses in Richtung 200 000er-Grenze. Das würde auf dem für Koalitionsverhandlungen entscheidenden Parteitag am 25. November schon reichlich Ärger bringen.

Beim Familiennachzug für Flüchtlinge wollen sie dafür umso dringender punkten - auch, damit sie vor den Delegierten überhaupt bestehen können. Die Grünen finden, dass sie an allen möglichen Ecken und Enden schon Zugeständnisse gemacht haben. Den Bogen zu überspannen, wäre gefährlich.

Und die FDP? Parteichef Lindner und sein Jamaika-erfahrener Vize Wolfgang Kubicki hätten zwischendurch das Gefühl hinterlassen, sie wollten Jamaika nach einigem Zögern nun auch. Dass sich das im Laufe der Nacht dann wohl wieder in Richtung der Haltung „eine Neuwahl würde uns nicht schwächen“ drehte, dürfte auch an einem von ihnen als vergiftet erkannten Angebot Merkels beim liberalen Kernthema Abbau des Solidaritätszuschlags gelegen haben.

Die FDP sollte statt der 20 Milliarden Euro, die der Soli-Abbau jährlich kostet, nur eine abgespeckte Version von acht bis zwölf Milliarden erhalten - und das auch noch erst zum Ende der Legislatur, wenn möglicherweise gar kein Geld mehr da ist. So wollten sich Linder und Kubicki nicht über den Tisch ziehen lassen.

Am Freitag bemühen sich einige Spitzen-Grüne dann wieder um demonstrative Abrüstung gegenüber der CSU. Der grüne Oberrealo und baden-württembergische Regierungschef Winfried Kretschmann begrüßt seinen bayerischen Amtskollegen Seehofer mit einem kumpelhaften „Guten Morgen Horst, grüß Dich, alter Freund“, bevor er zu Merkel in die CDU-Zentrale verschwindet. Der eine oder andere Grüne posiert fröhlich mit einem Papp-Adenauer.

Der Humor ist der Ökopartei also noch nicht abhanden gekommen. Die Grünen wirken alles in allem ganz zufrieden mich sich und den eigenen Verhandlungskünsten. Öffentliche Streitereien zwischen Parteilinken und Realos gibt es derzeit kaum. Die Botschaft nach außen ist klar: An uns liegt es jedenfalls nicht, wenn Jamaika in die Hose gehen sollte. Und jetzt mal sehen.

Die Kanzlerin kann sich nach dem nun anstehenden Wochenende der Jamaika-Entscheidung gleich am Montag bei einem Routinetermin erkundigen, was es bedeutet, wenn sich eine Regierungsbildung quälend lange hinzieht. Um Punkt 12.00 Uhr empfängt sie den niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte. Dessen Mitte-Rechts-Koalition war mehr als sieben Monate nach der dortigen Parlamentswahl erst vor gut drei Wochen vereidigt worden. Ruttes Regierungsbildung dauerte 225 Tage. Es war die bislang längste in der Geschichte der Niederlande.