Hohe Preise und Co. Macht die Krise uns alle arm?

Berlin · Wegen der Energiekosten warnen Sozialverbände vor wachsender Armut. Wird die Not in Deutschland zum Massenphänomen? Oder sind die Ängste übertrieben? Über Schicksale, Statistiken und staatliches Handeln.

Fotoaktion der Landesarmutskonferenz zu Beginn der landesweiten Aktionswoche «Armut bedroht alle» in Stuttgart.

Annie W. sagt, sie möchte einfach mal so einen Kaffee trinken gehen. „Das ist nicht möglich, wir können solche Kleinigkeiten nicht.“ Wenn die Schuhe kaputt sind oder der Schulranzen des Kindes: „Mal schnell in den Laden? Das geht nicht.“ Die 40-Jährige hat im Mai mit einem Tweet die Bewegung #Ichbinarmutsbetroffen angestoßen. Jetzt steht sie auf einer Bühne vor Demonstranten am Berliner Kanzleramt. Sie fordert Hilfe ein. „Wir gehören genauso dazu wie jeder andere auch.“

Etwa 200 Menschen sind an jenem warmen Oktobertag vor der Berliner Regierungszentrale. An diesem Samstag nun sollen es bei Demonstrationen zum „Solidarischen Herbst“ bundesweit 20 000 werden, dafür werben Gewerkschaften, Sozialverbände und linke Netzwerke. Stark steigende Preise für Lebensmittel, Gas und Strom - wer schon immer wenig hatte, fürchtet den Absturz, aber auch Normalverdiener sorgen sich. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) sagte schon kurz nach dem russischen Angriff auf die Ukraine: „Wir werden dadurch ärmer werden.“ Ist es jetzt soweit? Macht uns die Krise alle arm?

Zweistellige Teuerung

Die jetzt zweistellige Teuerung „wird leider dazu führen, dass es Wohlstandsverluste gibt“, sagt Markus Grabka vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin. „Das wird die Mehrheit der Menschen betreffen“

Dabei sieht Grabka nicht alles schwarz. Dieses Jahr soll die Wirtschaft noch um 1,4 Prozent wachsen, nächstes Jahr nur leicht um 0,4 Prozent schrumpfen. Die Zahl der Erwerbstätigen sei auf einem Höchststand, und das werde sich laut Prognose der Bundesregierung nächstes Jahr kaum ändern, sagt der Ökonom. Auch seien die Nettohaushaltseinkommen binnen 25 Jahren um 26 Prozent gestiegen. Wenn jetzt die Teuerung Kaufkraft fresse, dann tue das vielen Menschen zwar weh. Aber es könnte sich um einen „einmaligen Rücksetzer“ handeln, wenn Gewerkschaften in den anstehenden Tarifrunden ihre hohen Forderungen durchsetzen könnten.

Das gilt allerdings wohl nur für Beschäftigte mit ordentlich bezahlten Jobs, kaum für Menschen mit kleinem Einkommen oder staatlichen Hilfsleistungen. Laut Statistischem Bundesamt ist etwa ein Drittel der Menschen nicht in der Lage, unerwartete Rechnungen zu bezahlen, weiß auch Grabka, beim DIW Experte für Verteilungsfragen. „Bei diesen Menschen ist jetzt die Verunsicherung besonders groß. Das geht bis in die Mittelschicht hinein.“

Millionen drehen jeden Euro zweimal um

Schon 2021 waren nach Daten des Statistischen Bundesamts rund 13 Millionen Menschen in Deutschland armutsgefährdet, 15,8 Prozent der Bevölkerung. Laut Definition sind das Menschen, die über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verfügen. Derzeit sind das laut Grabka für einen Einpersonenhaushalt 1266 Euro monatlich. Der Paritätische Gesamtverband bezeichnet sogar 13,8 Millionen Menschen oder 16,6 Prozent als arm. An dieser Zahl gibt es Kritik, arm und armutsgefährdet sei nicht dasselbe, sagt Grabka. Klar ist aber, dass Millionen im Land schon bisher jeden Euro zweimal umdrehen mussten.

So ist es auch bei Annie W., die #Ichbinarmutsbetroffen gestartet hat. Die Frau aus Voerde am Niederrhein hat als Servicekraft und Babysitterin gearbeitet, eigentlich möchte sie gern ihr Abitur nachmachen. Aber noch lebt sie mit ihrem Sohn von Arbeitslosengeld II - so wie bundesweit rund 5,3 Millionen Menschen, nach Daten des Statistischen Bundesamts für 2020. Oft sind es Kinderbetreuung, fehlende Ausbildung oder Krankheit, die Berufstätigkeit verhindern. Daneben beziehen auch Rentner, Asylbeweber und andere Menschen, Hilfen zum Lebensunterhalt. Alle zusammen sind das bundesweit 6,9 Millionen. Die steigenden Preise? „Das ist Horror“, sagt Annie W.

Davor sorgt sich auch Denise Hänle, die bei der Armuts-Demo vor dem Kanzleramt etwas abseits steht. „Ich bin selbstständige Übersetzerin“, erzählt die zierliche Frau. „Ich war immer Geringverdiener, aber das war mir egal, ich war zufrieden mit meiner Art zu arbeiten, mit meiner Art zu leben. Es hat funktioniert, bis jetzt eben. Jetzt wird es halt nicht länger gehen.“ Sie fürchtet hohe Nachzahlungen fürs Heizen. „Ich werde wahrscheinlich Stütze beantragen müssen“, erwartet Hänle.

Laufende Kosten per Kredit

Millionen stecken in derselben Patsche, da ist sich Ulrich Schneider sicher. „40 Prozent der Haushalte haben überhaupt keine Rücklagen und können auch keine bilden“, sagt der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands. In den Beratungsstellen werde klar, dass einige nun die laufenden Kosten aus Krediten deckten. „Das ist natürlich fatal.“ Er hält die Teuerungskrise für weit schlimmer als die Corona-Pandemie. Damals hätten 15 Prozent der Beschäftigten wegen Kurzarbeit massive Einbußen gehabt, sagt der Sozialexperte. „Jetzt sind alle betroffen, und die unteren 40 Prozent in einer Art und Weise, dass sie nicht mehr ihre Rechnungen bezahlen können.“

Und was ist mit den milliardenschweren staatlichen Hilfspaketen? „Die Bundesregierung hat Maßnahmen ergriffen, um Bürgerinnen und Bürger angesichts der Energiepreisanstiege zu entlasten“, betont das Bundessozialministerium. „Steuerliche und preissenkende Maßnahmen sowie Energiepreispauschalen erhöhen die finanziellen Spielräume der Haushalte in allen Bereichen des Einkommensspektrums.“ Für besonders Hilfsbedürftige gebe es Einmalzahlungen und Heizkostenzuschüsse, das neue Bürgergeld und die Wohngeldreform. „Diese Maßnahmen wirken gerade einer Zunahme der Armut und einer sozialen Spaltung gezielt entgegen“, meint das Ministerium.

„Irgendjemand wird es tragen müssen“

Schneider sieht das anders. Der Verbandsvertreter findet zum Beispiel das Bürgergeld zu niedrig und den Kreis der Wohngeldempfänger zu klein. Auch von der geplanten Riesensumme von 200 Milliarden Euro zur Deckelung der Energiekosten gibt er sich unbeeindruckt. Ein Gaspreisdeckel nutze eben auch dem Millionär mit Swimmingpool. „Es sollte keine Politik mit der Gießkanne geben, sondern eine gezielte Unterstützung der Schwächsten“, fordert Schneider. Soll heißen: Auch wenn alle ärmer werden, brauchen nicht alle Hilfe. Einige können und müssen sich wohl alleine durchbeißen.

Gerhard Schick von der Bürgerbewegung Finanzwende geht einen Schritt weiter: Nicht nur bräuchten Reiche keinen Ausgleich für Einbußen. Sie sollen per Umverteilung die Kosten der Krise mit schultern - über Übergewinnsteuern, höheren Erbschaftssteuern und so weiter. „Irgendjemand wird es tragen müssen“, sagt Schick. Genauso sah es Wirtschaftsminister Habeck im Frühjahr im ZDF: „Wir müssen es nur so organisieren, dass nicht die Schwächsten der Gesellschaft, die Ärmsten, dann auf den hohen Kosten, den für sie hohen Kosten sitzen bleiben.“

© dpa-infocom, dpa:221021-99-205759/3

(dpa)