Herr Schulz, wo genau waren Sie an diesem Januar-Tag?
Interview „Die Stasi war nur der lange Arm“
Berlin · Am 15. Januar 1990 stürmten aufgebrachte Bürger die Stasi-Zentrale in Berlin. Bürgerrechtler und Grünen-Politiker Werner Schulz war dabei.
Bürgerrechtler und Grünen-Politiker Werner Schulz erzählt, wie er die Aktion heute vor 30 Jahren erlebte.
Werner Schulz: Ich stand mit vor dem Tor des Ministeriums für Staatssicherheit. Mitten im Pulk der vielen Leute, die gesagt haben, wir wollen da rein. Die Stimmung war sehr aufgewühlt. Man hatte das Gefühl, im nächsten Moment bricht der Sturm los.
Ist das Ereignis heute aus Ihrer Sicht ein Grund zum Feiern?
Schulz: Es ist ein Grund zum Feiern, dass es gelungen ist, diesen Geheimdienst abzuwickeln und hinter die Machenschaften dieses Unterdrückungsapparates zu schauen.
Angesichts der dramatischen Fernsehbilder gab es damals auch Befürchtungen, dass Anarchie und Chaos ausbrechen würden.
Schulz: Es war zweifellos ein großer Frust unter den Leuten zu spüren. In der DDR waren die meisten Bezirkszentralen der Stasi schon besetzt worden. Doch ausgerechnet der Sitz von Stasi-Chef Erich Mielke blieb bislang unbehelligt. Das wollten wir ändern, zumal sich auch Meldungen über Aktenvernichtungen häuften.
Aufgerufen zu dem Marsch auf Mielkes Machtzentrum hatte die Bürgerrechtsbewegung „Neues Forum“, der auch Sie angehörten. War der Verlauf wirklich so geplant gewesen?
Schulz: Ehrlich gesagt wussten wir damals alle nicht so genau, wie die Sache ausgehen könnte. Vor allem wollte man protestieren. Das riesige Gelände sollte sich öffnen, und die Vernichtung der Akten sollte gestoppt werden. Als das Tor dann wie von Geisterhand aufging, war das schon verblüffend.
Also war es eine Öffnung und keine Erstürmung? Darüber wird ja bis heute diskutiert.
Schulz: Es war beides. Einerseits haben die Demonstranten am Tor gerüttelt, aber davon allein ist es nicht aufgegangen. Es ist von innen geöffnet worden, ich nehme an, von Stasi-Leuten. Dann sind die Leute auf das Gelände geströmt. Vielleicht war das auch das letzte große Täuschungsmanöver der Stasi. Denn es war nur die Kantine erleuchtet. Die anderen Gebäude waren dunkel. Und da sich dort praktisch keiner von uns auskannte, ist dann die Kantine gestürmt worden. Die Leute haben die Speisepläne zerrissen, während das Stasi-Archiv zum Glück dem Sturm entging. Ansonsten wären bei der ganzen Wut-Attacke wohl viele Dokumente unwiederbringlich zerstört worden.
Es gab auch Bürgerrechtler wie Friedrich Schorlemmer, die die Stasi-Akten einem „Freudenfeuer“ übergeben wollten. Können Sie das verstehen?
Schulz: Nein. Offenbar hatte er damit eine Art Hexenverbrennung im Sinn. Aber das war dumm und unverantwortlich. Denn es wäre eine irre Stasientlastung und Aktenvernichtung gewesen. Die Ersetzung des Reißwolfs durch einen Scheiterhaufen. Auch Helmut Kohl meinte ja, dass aus den Akten ein übler Geruch käme. Nein, es war wichtig, diese Papiere zu sichern. Dadurch ließ sich rekonstruieren, wie ein Geheimdienst ein Volk überwacht hat. Schlimmes Denunziantentum inbegriffen, aber auch viel Mut, Widerstand und Zivilcourage. All das kann man in den Akten erkennen. Und das ist für die Aufarbeitung der Diktatur in der DDR äußerst wichtig.
Ist der Umgang mit den Stasi-Akten gut gelaufen?
Schulz: Ja. Die Gauck-Behörde war ja kein Scharfrichter. Wer wollte, konnte erfahren, was in den Akten steht und sich eine Meinung bilden, wie man mit den Zuträgern weiter umgeht. Bis heute wollen Kinder und Enkel wissen, was der Vater oder Opa gemacht hat. Es war ja auch so, dass die Stasi nicht irgendwelche Märchen aufschrieb. Man sollte das Gewicht dieser Dokumente nicht nach dem Motto relativieren, da stünden Legenden drin. Die Stasi war zweifellos an unverfälschten Informationen interessiert.
Das Stasi-Gelände in Berlin ist heute ein Museum. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie dort sind?
Schulz: Mir kommt wieder die Ungeheuerlichkeit dieser Krake in den Sinn. Alles Material wurde gesammelt, um Bürger einzuschüchtern, psychisch zu brechen oder einzusperren. Wichtig dabei ist aber immer zu erkennen, dass die Stasi nur der lange Arm der DDR-Staatspartei SED war. Der Befehlsgeber war die SED. Die SED hat es jedoch gut verstanden, die ganze Schuld und Verantwortung auf die Stasi abzuschieben. Die Stasi war Schild und Schwert. Aber die beiden Hände, die im Parteiabzeichen der SED waren, die haben Schild und Schwert geführt.