Gauck — 100 Tage und kein bisschen leise
Das Staatsoberhaupt hat nun auch aktiv in die Debatte um den Fiskalpakt eingegriffen. Das gibt seinem Profil zusätzliche Schärfe.
Berlin. Es ist nur eine kleine Episode, aber sie sagt viel über Joachim Gauck aus. Mitte Mai, Schloss Bellevue: Gauck entlässt und ernennt erstmals Bundesminister aus dem Kabinett. Das Protokoll hatte bisher für solche Fälle vorgesehen, dass das Staatsoberhaupt sich bei den Beteiligten — in diesem Fall Norbert Röttgen und Peter Altmaier — kurz bedankt oder sie beglückwünscht. Gauck hatte sich aber ziemlich bestürzt über den Röttgen-Rausschmiss durch die Kanzlerin geäußert. Also hält er eine gar nicht mal kurze Rede, in der er die Verdienste des ausgeschiedenen Ministers ausgiebig würdigt.
Man solle Gauck nicht unterschätzen, warnt jemand aus dem Bundespräsidialamt. Das Motto „Freiheit und Verantwortung“, unter das er seine Präsidentschaft stellt, „fängt bei ihm selbst an“. Dass der 73 Jahre alte Theologe ehrgeizig ist und zur Not auch die Ellenbogen ausfahren kann, hat er gerade unter Beweis gestellt.
Seine Mitarbeiter hatten ihn auf einen drohenden Konflikt mit Bundesregierung und Bundestag hingewiesen, der sich aus dem Zeitplan der Verabschiedung des Gesetzes über Fiskalunion und einheitlichen Euro-Rettungsschirm ergibt: Zweite und dritte Lesung im Bundestag am kommenden Freitagnachmittag; anschließend Beratungen im Bundesrat. Merkel will die Gesetze aber zum 1. Juli — einem Sonntag — in Kraft treten sehen, um eine hysterische Finanzmarkt-Reaktion zu vermeiden. Der extrem enge Zeitrahmen bedeutet für Gauck: keine Chance auf ausführliche Prüfung.
In der Öffentlichkeit hätte der Präsident als „Unterschriften-Automat“ gegolten. „Das Problem sehen wir“, hieß es in seiner Umgebung. Mit Missfallen hat man beispielsweise auf einen Brief des Unionsfraktionschefs Volker Kauder reagiert, in dem dieser Gauck darauf hinweist, dass die Prüfung durch den Präsidenten nicht inhaltliche Fragen mit einbeziehen dürfe, sondern er nur das verfassungsgemäße Zustandekommen des Gesetzes prüfen solle. Dass die Kanzlerin mit ihm in dieser Angelegenheit gesprochen hat, wird nicht bestritten. In jedem Fall erklärte Gauck, er werde das Gesetz vorläufig nicht unterschreiben. Ohne die Signatur des Präsidenten gibt es aber keinen Rettungsschirm.
Der gebürtige Rostocker, der am Dienstag 100 Tage im Amt ist, ist im Berliner Politikbetrieb noch nicht so richtig angekommen. Er ignoriert ihn vielleicht auch, hinterfragt aber gern Dogmen. Beispielsweise jenen Satz seines Amtsvorgängers Christian Wulff: „Der Islam gehört zu Deutschland.“ Den Satz kann und will er so nicht stehen lassen: „Die Muslime, die hier leben, gehören zu Deutschland.“ Für diese Einlassung steht Gauck bei den Grünen nicht gerade hoch im Kurs. Auch für seine Unterstützung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr („Soldaten sind Mutbürger in Uniform“) gibt es mächtigen Gegenwind.
Die Grünen, aber auch die SPD, kritisierten offen Gaucks Warnung vor Planwirtschaft in der Energiewirtschaft. Den tieferen Sinn seiner Aussage über die „glückssüchtigen Deutschen“ hat so niemand recht erfassen können. Bei seinen Reden wirkt er oft übermäßig pastoral. Aber Gauck beherrscht auch die Kunst der freien Rede, wobei ihm ab und an das Herz übergeht. Er müsse deshalb auch zur Not eine Rede ablesen, so ein zur Vorsicht neigender Berater.