Analyse Hamburgs OB Scholz — Gegenentwurf zu Schulz

Auftrittsverbot für den türkischen Präsidenten Erdogan, Ehe für alle: SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz fährt Siege ein — und wieder steigen die Umfragewerte für die Kanzlerin. Findet Schulz keinen neuen Dreh, wird der kommende Mann der SPD Scholz heißen. Olaf Scholz. In dieser Woche präsentiert sich der Erste Bürgermeister Hamburgs als G20-Co-Gastgeber.

Analyse: Hamburgs OB Scholz — Gegenentwurf zu Schulz
Foto: Ole Spata/dpa

Dortmund/Hamburg. Eigentlich macht Martin Schulz gar nicht so viel falsch. Das Wahlprogramm der SPD ist keineswegs schlechter als das der CDU. Die Forderung nach einem Auftrittsverbot für den türkischen Staatspräsidenten Erdogan hat Schulz richtig platziert, die überraschende Durchsetzung der Ehe für alle war ein Bravourstück — doch nichts davon fruchtet. Im Gegenteil: Schulz’ Siege werden, wie auch alle durchgesetzten SPD-Forderungen in der großen Koalition, in den Umfragen Angela Merkel gutgeschrieben. Das Problem, das die Sozialdemokratische Partei Deutschlands regelrecht kaputtmacht, heißt „Postliberalismus“.

 Der aktuelle Kanzlerkandidat der SPD, Martin Schulz (r.), im Europawahlkampf 2004 mit dem damaligen SPD-Generalsekretär Olaf Scholz. Scholz ist inzwischen der Erste Bürgermeister Hamburgs und hat sich in der Partei erneut viel Einfluss gesichert.

Der aktuelle Kanzlerkandidat der SPD, Martin Schulz (r.), im Europawahlkampf 2004 mit dem damaligen SPD-Generalsekretär Olaf Scholz. Scholz ist inzwischen der Erste Bürgermeister Hamburgs und hat sich in der Partei erneut viel Einfluss gesichert.

Foto: dpa

Seit der Neoliberalismus in der Finanzkrise 2008 untergegangen ist, dümpeln zwei Boote auf dem politischen Trümmer-Meer der europäischen Gesellschaften. In das eine hat sich ein „Liberalismus der Eliten“ gerettet, in das andere ein „bodenständiger Liberalismus“ der Durchschnittsbevölkerung. Dem bodenständigen Liberalismus gingen zwar viele Auswüchse des Neoliberalismus zu weit, aber die Errungenschaften der liberalen Moderne will er nicht aufgeben, in Wahrheit nicht einmal in Frage stellen. Das nützt europaweit rechtspopulistischen Parteien vor allem deshalb, weil die „bodenständigen Liberalen“ sich von den Funktionseliten ignoriert sehen.

Dass die „Bodenständigen“ auf der Bewahrung einer vertrauten und beherrschbaren Umwelt bestehen, „wird von der Politik der Funktionseliten tendenziell ignoriert. Hierin unterscheidet sich der Wirtschaftsliberalismus nicht vom soziokulturellen Linksliberalismus der akademischen Mittelschichten“, so David Goodhart. Daraus folgt laut dem Direktor des britischen „Think Tanks“ Demos: „Die Sozialdemokratie wäre gut beraten, nach einer neuen ,postliberalen’ Synthese aus elitärem und bodenständigem Liberalismus zu suchen. Diese postliberale Synthese würde eine hohe Attraktivität für Wähler besitzen. Sie würde konservativere Positionen im soziokulturellen Bereich mit sozialdemokratischer Wirtschafts- und Sozialpolitik verbinden und den Liberalismus wieder stärker lebensweltlich verankern.“

Das alles ist kein Geheimwissen, von dem die Sozialdemokraten noch nie gehört hätten. Goodhart hat es 2015 in einem Papier der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung veröffentlicht („Postliberalismus“ oder ein Plädoyer für einen populären Liberalismus, PDF hier: goo.gl/zy9HeE), der Kanzlerkandidat und seine Berater müssten die Hinweise bloß lesen und daraus in den wenigen Wochen, die ihnen noch bleiben, eine Kampagne schmieden. Doch das fällt Schulz, wie zuletzt auf dem Parteitag in Dortmund nicht nur seine mehr als einstündige Rede zeigte, offenbar schwer.

Zum Beschluss des Wahlprogramms, das kaum jemand lesen wird, lieferte die SPD eine Show voller Widersprüche und Unverständlichkeiten. Der neue Generalsekretär der SPD, Hubertus Heil, kam sichtbar überhaupt nicht vor; gewählt wurde er auch nicht. Stattdessen eröffnete Manuela Schwesig, die als Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern faktisch keine bundespolitische Rolle mehr spielt.

Bundesaußenminister Sigmar Gabriel wurde von der Parteitags-Regie aus dem Bild gedrängt. Mit Gerhard Schröder als Ruckredner stand ein Wahlverlierer und das Gesicht der verhassten Agenda 2010 auf der Bühne. Und dann arbeitete Schulz sich an „den anderen“ ab. Im nachrichtlichen Geschehen blieb davon nur seine Behauptung übrig, Angela Merkels Wahlkampf-Taktik der „asymmetrischen Demobilisierung“ sei ein „Anschlag auf die Demokratie“.

Diese Taktik ist kein Anschlag, und sie ist es schon gleich gar nicht bloß aus dem Grunde, dass Schulz sich eine Demokratie ohne andauernden Diskurs aller mit allen nicht vorstellen kann. Die meisten Deutschen können das sehr wohl, sie müssen nicht dauernd über alles reden. Deshalb funktioniert Angela Merkels mildes Matriarchat als Regierungsmethode, über vieles einfach hinwegzusehen und mit laxer Hand abzusegnen, was sich nicht verhindern lässt.

Über weite Strecken redet Martin Schulz dagegen seit Monaten nicht wie jemand, der sich das Land zurückholen und Bundeskanzler werden will. Er spricht wie ein Kandidat für den BRD-Betriebsrat, der es für mutig hält, am Thron der rechtmäßigen Herrscherin zu wackeln. Für einen glanzvollen Wahlsieg wird dies im September kaum reichen.

Für die Zeit nach Schulz läuft sich im Hintergrund aber bereits ein Mann warm, der sich bisher bei der SPD-Kandidatensuche bewusst zurückgehalten hat. Olaf Scholz, einst als spaßfreier „Scholzomat“ verspottet in seiner Zeit als Generalsekretär Gerhard Schröders, heute überaus erfolgreicher Erster Bürgermeister der Hansestadt Hamburg.

Scholz ist in dieser Woche Co-Gastgeber, wenn sich die zwanzig wichtigsten Staats- und Regierungschefs zu ihrem Gipfel in Hamburg treffen — und im Vorfeld inszeniert er sich und die Stadt als weltoffen und der Völkerverständigung verpflichtet. Beinahe beiläufig erzählt er in diesen Tagen, wie ihn die Kanzlerin angerufen und ihn gefragt hat, ob der Gipfel in Hamburg stattfinden kann. „Ich habe ohne Bedenkzeit Ja gesagt.“ Und er fügt dann mit seiner sehr leisen Stimme hinzu: „Gut ist, dass ich hätte Nein sagen können.“ Für die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS)“ „klingt es fast schon, als hätten die beiden dabei auch schon die Nachfolgefrage fürs Kanzleramt geklärt“.

Scholz ist so etwas wie der Gegenentwurf zu Schulz. Hier der hemdsärmelige Mann aus Würselen, der nicht müde wird zu betonen, dass er es ohne Abitur zu etwas gebracht hat. Dessen Politik sich vor allem auf das Thema soziale Gerechtigkeit konzentriert, auf den hart arbeitenden 50-Jährigen, der nachts nicht schlafen kann. Dort der hanseatisch-zurückhaltende Scholz, der seine leise gesprochenen, wohlformulierten Sätze gerne mit Formulierungen wie „Das entspricht nicht meinem Verständnis von Demokratie“ einleitet. „Scholz“, so schrieb eine Hamburger Zeitung unlängst, „verbinde den Pragmatismus Angela Merkels mit der Wucht Gerhard Schröders“. Dabei ist es nicht so, dass Scholz die SPD-Klientel nicht im Blick hat. Er formuliert nur anders als Schulz: „Das Prinzip sozialdemokratischer Politik lautet: Wer sich im Leben Mühe gibt, muss klarkommen können.“

Lässig zählt er auf, warum im Prinzip alles auf die SPD hinausläuft. Sie sei einfach „die beliebteste Partei Deutschlands“. Für Hamburg hat er das Ziel ausgegeben, dass auch Menschen mit geringerem Einkommen in der Stadt wohnen können. Je 100.000 Einwohner wurden 2015 in Hamburg 114 neue Sozialwohnungen gebaut, knapp viermal so viel wie im zweitplatzierten NRW, so die „FAS“. Dazu kommen kostenfreie Kitas und Ganztagsschulen. Seine Vorstellung von einer „modernen SPD“ umfasst aber auch eine eher harte Linie bei der inneren Sicherheit.

Längst hat sich Scholz Einfluss in der Partei gesichert: Im aktuellen SPD-Wahlprogramm positioniert er seine Partei als Steuersenkungspartei für die breite Mittelschicht. Er koordiniert die Aktivitäten der sieben von der SPD geführten Bundesländer, es ist eine einflussreiche Position, die er von der abgewählten NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft übernommen hat. Und nun — als G20-Co-Gastgeber — zeigt er, dass er auch Weltpolitik beherrscht.

Anders als Martin Schulz hält Scholz solche Gipfel wie G20 für „wichtig und richtig“. Es sei schon „ein Wert an sich, dass die Staats- und Regierungschefs miteinander reden. Wir haben keine Weltregierung. Die Notwendigkeit für internationale Zusammenarbeit war aber nie größer. Es gibt weltweit unzählige Krisen, die oftmals mittelbar oder unmittelbar miteinander verbunden sind und die kein Land der Welt allein lösen kann.“

Dieser Mann denkt an die Zeit nach Merkel.