Flüchtlingspolitik Kohl trifft Orbán - Geht der Altkanzler unter die Merkel-Kritiker?

Altbundeskanzler Helmut Kohl (86) sorgt politisch für Aufsehen. Er will sich mit Ungarns umstrittenen Premier Viktor Orbán treffen und veröffentlicht einen Buchbeitrag, der als Kritik an Angela Merkels Flüchtlingspolitik gelesen werden kann.

Altbundeskanzler Helmut Kohl (86) will sich mit Ungarns umstrittenen Premier Viktor Orbán treffen.

Foto: Michael Kappeler

Berlin. Die politische Botschaft ist in blühende Prosa über einen zufrieden im Rollstuhl in der Frühlingssonne sitzenden Altkanzler verpackt, aber sie hat es in sich. Anlässlich seines 86. Geburtstags am Sonntag gewährte Altbundeskanzler Helmut Kohl (86) seinem langjährigen Vertrauten, „Bild“-Herausgeber Kai Diekmann, Zugang zu seiner Terrasse in Ludwigshafen-Oggersheim und zu seinen Gedanken über die Flüchtlingskrise. Und so beschreibt der Journalist nicht nur ausführlich den nach mehreren Operationen angegriffenen Gesundheitszustand des CDU-Politikers, sondern er transportiert auch eine Nachricht, die man als Kampfansage Kohls an Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) lesen kann: Kohl wolle sich mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán treffen.

Orbán ist der wohl entschiedenste Gegner Merkels in der europäischen Flüchtlingskrise und für viele Anhänger der Kanzlerin ein politisch Unberührbarer. Schon der Besuch von CSU-Chef Horst Seehofer bei Orbán in Budapest Anfang März hatte für Unruhe im Merkel-Lager gesorgt. Dabei versicherten beide Politiker, sie betrieben mitnichten den Sturz der Kanzlerin. Nun also Kohl. Zu den Umständen des geplanten Treffens mit Orbán äußert sich der Altkanzler nicht. Es ist zu vermuten, dass der ungarische Premier Kohl in dessen Privathaus in Ludwigshafen-Oggersheim besuchen wird. Dort hatte Kohl, wie er ebenfalls in dem „Bild“-Interview verrät, auch schon den kroatischen Außenminister Miro Kovac empfangen, ebenfalls ein Verfechter einer rigideren Flüchtlingspolitik.

Wie ist das angekündigte Treffen Kohls mit Orbán zu werten? Der Altkanzler ist zwar Privatier, aber gerade in europäischen Fragen noch ein beachteter Richtungsgeber innerhalb der Union. Er schätze Orbán als „Europäer mit Herzblut“. Auch sei er unglücklich über den aktuellen Zustand der europäischen Politik, schüttele nur den Kopf über den Konflikt zwischen CDU und CSU, wird seine Position beschrieben. So kann man auch den Teil eines Buchbeitrags als durchaus brisant empfinden, den Kohl vorab zur Veröffentlichung freigegeben hat. Darin schreibt der „Ehrenbürger Europas“: „Einsame Entscheidungen, so begründet sie dem Einzelnen erscheinen mögen, und nationale Alleingänge müssen der Vergangenheit angehören. Sie sollten im Europa des 21. Jahrhunderts kein Mittel der Wahl mehr sein, zumal die Folgen von der europäischen Schicksalsgemeinschaft regelmäßig gemeinsam getragen werden müssen.“

Der Text soll in einem Buch anlässlich der Verleihung des Aachener Karlspreises an Papst Franziskus Anfang Mai erscheinen. Die vorab veröffentlichten Sätze lesen sich wie die häufiger aus Unionsreihen zu hörende Kritik an Angela Merkels Entscheidung vom 5. September vergangenen Jahres, als die Kanzlerin die Grenzen öffnen ließ, um in Ungarn festsitzende Flüchtlinge nach Deutschland einreisen zu lassen. Bis heute wird dieser Tag von vielen in der Union als einsame Entscheidung und Beginn des Kontrollverlusts gegeißelt, während Merkel-Anhänger ihn als humanitäre Entscheidung verteidigen.

In Verbindung mit dem Besuch Orbáns könnten Kohls Zeilen die nach dem jüngsten Brüsseler Flüchtlingsgipfel abgeebbte innerparteiliche Diskussion um Merkel erneut anfachen. Zwar will Kohl den Beitrag als Ausnahme verstanden sehen, lediglich der „Sorge um Europa geschuldet“. Kohl ist jedoch immer noch politischer Profi genug zu wissen, dass er in der Flüchtlingskrise ein zumindest interpretierbares Zeichen setzt.