30 Jahre Mauerfall Thomas Krüger über sein Leben in Ost und West: „Die DDR war für mich ein Trainingslager“

Berlin · Thomas Krüger, Chef der Bundeszentrale für Politische Bildung, über seine zwei Leben in Ost und West. In Berlin startet die Mauerfall-Erinnerungswoche.

 Eine Grenzsäule der DDR ist am Grenzmuseum Sorge zu sehen. Die Grenzöffnung jährt sich am 9. November zum 30. Mal.

Eine Grenzsäule der DDR ist am Grenzmuseum Sorge zu sehen. Die Grenzöffnung jährt sich am 9. November zum 30. Mal.

Foto: dpa/Swen Pförtner

Thomas Krüger hat zwei Leben gelebt, mindestens. Der 60-Jährige – gebürtiger Thüringer – verbrachte die ersten 30 Jahre bis zum Mauerfall als Kind der DDR. Er war dort Theologe und Mitbegründer der Ost-SPD. Danach begann seine politische Karriere im Westen, wo er nun seit 19 Jahren Präsident der Bundeszentrale für Politische Bildung ist.

 Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung.

Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung.

Foto: BNP/Martin Scherag/Martin Scherag

Leben kann man nicht vergleichen. Aber in welchem Land war das Leben besser?

Thomas Krüger: Ohne Frage in dem Land, in dem ich mich frei bewegen kann und in dem ich denken kann, was ich will. Trotzdem gehört natürlich auch meine DDR-Vergangenheit zu mir. Ich würde sagen, die DDR war für mich so etwas wie ein Trainingslager, um mich an autoritären und diktatorischen Strukturen abzuarbeiten – und Freiheit und Demokratie umso mehr schätzen zu lernen.

Hat die Mauer für einen Heranwachsenden in der DDR eine starke Rolle gespielt?

Krüger: Nein, man hat sie eher ausgeblendet. Weil es auch unerträglich ist, wenn man realisiert, dass man eingemauert ist. Viele haben für sich kleine Fluchten und Freiräume gesucht. Ich zum Beispiel bin häufig im Transit durch die Sowjetunion gereist und habe dabei versucht, möglichst weit von der vorgegebenen Route abzuweichen.

Was haben Sie beim Mauerfall empfunden?

Krüger: Die Bürgerrechtsbewegung war damals gerade stark im Aufwind, und wir glaubten, dass wir aus der DDR ein demokratisches Land machen könnten. Mit der chaotischen Öffnung der Mauer verflogen diese Träume. Für mich war der 9. November eher ein Schock und ein Moment der Enttäuschung.

Weil die DDR-Bürgerbewegung immer unterschätzt hat, dass eine Mehrheit der Menschen keinen neuen Staat, sondern nur die D-Mark und ein vereinigtes Deutschland wollte?

Krüger: Das stimmt. Wir haben uns eingebildet, irgendetwas in der DDR zu repräsentieren, aber wir waren in Wirklichkeit nur eine kleine Gruppe, die für sich eine Utopie hatte, welche von anderen nicht geteilt wurde. Im Unterschied zu Solidarnosc in Polen, die ja auch noch die katholische Kirche im Rücken hatte, konnten wir nie wirklich eine Machtperspektive entfalten.

Wieso kann 30 Jahre danach eine politische Partei, die AfD, mit dieser Enttäuschung noch Punkte machen?

Krüger:  Drei Viertel der DDR-Bevölkerung hatte mit SED oder Stasi nichts zu tun. Trotzdem spielten die Erfahrungswelten der normalen Bürger nach der Wende  keine Rolle. Die erlebten nicht nur Arbeitsverluste, sondern auch den Verlust ihrer Alltagskultur. In dieses Terrain stößt jetzt die AfD vor – übrigens ausschließlich mit westdeutschen Führungspersonen. Ironie der Geschichte: Wieder vertreten Wessis die angeblichen Interessen der Ostdeutschen.

Haben die Ostdeutschen die Demokratie nicht verstanden?

Krüger: Die DDR war eine homogene weiße Gesellschaft. Die Vertragsarbeiter aus Polen oder Vietnam wurden von der Bevölkerung abgeschottet, ebenso die sowjetischen Besatzungssoldaten. Die Begegnung verschiedener Lebenserfahrungen und -stile und Kulturen war nie ein Thema. Die Wähler der AfD sind aber nicht alle verfestigt rechts. Wahlen im Osten waren schon immer sehr volatil und wurden genutzt, um aktuelle Unzufriedenheiten zu äußern.

Aber die Hälfte der jetzt im Osten lebenden Bürger ist in der vereinigten Bundesrepublik groß geworden. Warum schlägt diese Demokratieerfahrung offensichtlich nicht durch?

Krüger: Die, die Bildungserfolge hatten, vor allem aus den ländlichen Räumen, sind in den Westen gegangen. Zurückgeblieben sind junge Männer mit relativ geringen Bildungsabschlüssen. In einigen ostdeutschen Universitätsstädten und Metropolen ändert sich das allmählich wieder. Was im Osten läuft, ist in verschärfter Form im Grunde ein Kampf um die kulturelle Hegemonie zwischen offener Gesellschaft und Abschottung. Diesen Kampf gibt es angesichts der Globalisierung in vielen Ländern.