Leidenschaft und viel Kritik bei Feier des Grundgesetzes

Berlin (dpa) - Mit deutlicher Kritik an Verfassungsänderungen der vergangenen Jahre hat der Bundestag des 65. Jahrestags des Grundgesetzes gedacht. „Das Grundgesetz hat nahezu den doppelten Umfang, ist damit zwar deutlich länger, aber nicht unbedingt deutlich besser geworden“, sagte Bundestagspräsident Norbert Lammert in der Feierstunde.

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Der iranischstämmige Schriftsteller Navid Kermani überraschte die Abgeordneten mit einem leidenschaftlichen Appell für die Aufnahme von mehr Flüchtlingen.

Der Festredner kritisierte die 1993 eingeführte Drittstaatenregelung, nach der Menschen, die über ein Land ohne politische Verfolgung einreisen, kein Asyl in Deutschland bekommen. „Möge das Grundgesetz spätestens bis zum 70. Jahrestag seiner Verkündung von diesem hässlichen, herzlosen Fleck gereinigt werden“, sagte Kermani. „Wir können das Grundgesetz nicht feiern, ohne an die Verstümmelungen zu erinnern, die ihm hier und dort zugefügt worden sind.“

Deutschland habe genügend Ressourcen für die Aufnahme von mehr Flüchtlingen, sagte der Autor. Von den neun Millionen Syrern, die ihre Heimat verloren hätten, nehme die Bundesrepublik gerade einmal 10 000 auf. Es gebe viele Menschen, die auf Offenheit angewiesen seien - „und Edward Snowden ist einer von ihnen“, sagte Kermani.

Im NSA-Untersuchungsausschuss des Bundestag wird derzeit über eine Anhörung des ehemaligen NSA-Mitarbeiters in Deutschland gerungen, der die Affäre um das massenhafte, weltweite Ausspähen von Internetnutzern durch den US-Geheimdienst ans Licht gebracht hatte.

Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU) entgegnete: „Deutschland ist das Land, das am meisten Asylbewerber in ganz Europa aufnimmt.“ Unionsfraktionsvize Georg Nüßlein (CSU) verließ aus Protest gegen Kermanis Rede den Plenarsaal.

Lammert kritisierte, „dass wir inzwischen manche zweitrangige Frage in der Verfassung geregelt haben“. Die Grundsätze des Wahlsystems hätten aber noch immer keinen Verfassungsrang.

Der CDU-Politiker ermahnte Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht zu selbstkritischer Reflexion, ob die jeweiligen verfassungsmäßigen Grenzen eingehalten werden. Es gebe den gelegentlichen Ehrgeiz des Verfassungsgerichts, „die geltende Verfassung durch schöpferische Auslegung weiterzuentwickeln“.

Zwar müssten die Verfassungsrichter darauf achten, dass niemand die Grenzen überschreitet. „Dabei sollte sich auch das Gericht immer wieder vergewissern, ob es die ihm selbst gesetzten Grenzen seinerseits so einhält, wie es dies von anderen Institutionen verlangt.“ In Sondervoten hätten Verfassungsrichter immer wieder eine Verletzung der Grenzen zwischen gesetzgeberischer Gestaltung und der Kontrollfunktion des Gerichts gesehen.

Justizminister Heiko Maas nahm das Gericht in Schutz. Es verwundere nicht, dass die Mehrheit nicht immer applaudiere, wenn das Verfassungsgericht die Belange der Minderheit schütze, schrieb der SPD-Politiker in einem Gastbeitrag für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (Freitag). „Anlass zum Umsteuern gibt es deshalb nicht.“ Die Debatte hatte etwa durch die Urteile gegen Beschränkungen beim Adoptionsrecht für homosexuelle Lebenspartner von 2013 oder die deutsche Drei-Prozent-Hürde bei Europawahlen Nahrung erhalten.

Als überfällig mahnte Lammert ein anderes Verfahren zur Wahl der Verfassungsrichter an. Dass der Bundestag in geheimer Wahl mit Kanzlermehrheit nun einen neuen Präsidenten des Bundesrechnungshofs gewählt habe, aber von der Bestellung einer Verfassungsrichterin durch den entsprechenden Wahlausschuss nur im Nachhinein informiert worden sei, „ist beider Verfassungsorgane unwürdig“. Renate Künast (Grüne) forderte die Wahl der Richter durch das Plenum.

Gregor Gysi (Linke) und Katrin Göring-Eckardt (Grüne) kritisierten, die Ausspähungen durch Geheimdienste widersprächen dem Grundgesetz. Lammert betonte, die Verfassung habe die Einbindung von Millionen Einwanderern ermöglicht: „Die vom Grundgesetz garantierten Menschenrechte gelten für alle Menschen, die hier leben.“