Porträt Martin Schulz: Ein Rücktritt, ein Buch und ein 100-Prozent-Fluch

Wie der ehemalige SPD-Vorsitzende Martin Schulz über seine Partei und eigene Fehler denkt. Und wie er gegen den Hass der AfD kämpfen will.

Ein Europäer im Willy-Brandt-Haus: In der Berliner SPD-Zentrale ist der ehemalige Parteichef und Kanzlerkandidat nie wirklich angekommen. Martin Schulz sieht es heute im Rückblick auch selber so.

Foto: Kay Nietfeld

Aachen. Sagen, was ist: So lautet einer der vornehmsten Grundsätze eines Journalisten. Also sagen wir es frank und frei: Der gefragteste Interview-Kandidat der politischen Kaste in Deutschland sagt öffentlich nach wie vor: gar nichts. Er meidet auch jede Talkshow. Man kann es sich nicht wirklich vorstellen: Ausgerechnet der ansonsten so eloquente Martin Schulz hat sich eine Interview-Fastenzeit verordnet und hält sie auch nach Ostern wacker durch.

Wir reden hin und wieder miteinander, weil wir uns schon lange kennen. Aber, so spürt man es deutlich, die Familie möchte an keiner weiteren „Schulz-Story“ mitwirken, kein „Feldenkirchen II“ erleben, sie will sich ganz offensichtlich einen so intimen und protokollartig veröffentlichten Report nicht mehr zumuten. Martin Schulz und seine Frau Inge schauen sich die einschlägigen Talkshows — etwa Markus Lanz — gar nicht erst an.

Markus Feldenkirchen geriert sich bei solchen TV-Gelegenheiten zuweilen wie eine Art selbst ernannter persönlicher Chefpsychologe des ehemaligen SPD-Vorsitzenden, als der Schulz-Versteher, der den Mann, über den er ein bemerkenswertes Buch geschrieben hat, scheinbar besser kennt als der sich selber. Eine Teilnahme an der Vorstellung des Buches hat Schulz derweil abgelehnt.

Es sind noch zwei Wochen bis zum SPD-Bundesparteitag am 22. April. Nach Wiesbaden wird er dann fahren, der zurückgetretene Parteichef. Und vorher, so hat er sich das eben vorgenommen, will er öffentlich keine Fragen beantworten. Ohne „Bitterkeit und Zorn“ blicke er auf dieses Jahr zurück, sagt er da nur. Immerhin das. Und ergänzt: „Zorn kenne ich sowieso nicht.“

Nähern wir uns dem Thema deshalb anders. Mit Max Weber: „Was vermag die Politik als ,Beruf‘ an inneren Freuden zu bieten?“ Das fragt der Soziologe und Nationalökonom im Jahr 1919 in seinem berühmten Vortrag und Aufsatz „Politik als Beruf“. Wenn Martin Schulz trotz seines rasanten und in mehreren Facetten schier unglaublichen Jahres in der Berliner SPD-Familie keinen Zorn empfindet, dann gewiss auch keine Freuden.

Er übernahm im Willy-Brandt-Haus eine Erblast, die wenig vergnügungssteuerpflichtigen Anlass bot. Siebeneinhalb Jahre war Sigmar Gabriel da schon Vorsitzender gewesen, und nun ist auf einmal die Krise der SPD nur die Schulz-Krise? Da macht es sich die sozialdemokratische Partei wohl zu leicht. Dieses Maß an offensichtlicher Ungerechtigkeit will Schulz nicht einfach akzeptieren. Eine Aufarbeitung sei da noch nötig: So hat er es formuliert. „Einen ganz trivialen, allzu menschlichen Feind hat daher der Politiker täglich und stündlich zu überwinden: die ganz gemeine Eitelkeit, die Todfeindin aller sachlichen Hingabe und aller Distanz.“

Auch dieser Weber-Satz ist nach knapp hundert Jahren brandaktuell. Sigmar Gabriel war vor einem Jahr als zaudernder SPD-Vorsitzender und Noch-nicht-Außenminister einer der unpopulärsten Politiker in Deutschland. Parallel dazu schaffte es der EU-Parlamentspräsident Schulz regelmäßig in die Primetime der „Tagesthemen“ und des „heute-journals“ und war einer der populärsten deutschen Politiker. Das ist dem Nicht-Kanzlerkandidaten Gabriel am Ende doch gelungen: die Beliebtheitsskala auf den Kopf zu stellen.

„Denn das Problem ist eben: wie heiße Leidenschaft und kühles Augenmaß miteinander in derselben Seele zusammengezwungen werden können. Politik wird mit dem Kopfe gemacht, nicht mit anderen Teilen des Körpers oder der Seele.“

Wie passt zu dieser Weber-These der große Hype um den 100-Prozent-Schulz? Er habe diesem Hype von Anfang an misstraut, sagt er. Und in einem Video-Interview mit unserer Zeitung hat er dazu Anfang des Jahres gesagt: „Der sogenannte Schulz-Hype war extrem gefährlich. Ich habe deshalb gesagt: ,Leute, lasst das sein! Es ist weder nützlich, noch vernünftig.‘“

Aber die Kopfsache blieb auf der Strecke — in einem verheerenden Ausmaß. Das zentrale Schulz-Thema Europa wurde wie ein grober Klotz auf den Müllhaufen des Wahlkampfs geschmettert, weil die „Berater“ (übrigens im Gegensatz zu Emmanuel Macron!) glaubten, Europa sei als Thema nur negativ besetzt. Weil sie meinten, den auf internationaler Bühne erfolgreichen EU-Parlamentspräsidenten in deutschen Landen als Provinzbürgermeister aus Würselen anpreisen zu müssen. Weil sie ihn in einer unfassbar dilettantischen „Sommertour“ durch Kitas, Autozuliefererfirmen und eine Fischräucherei jagten. Weil sie sich damit endgültig aus der professionellen Wahlkampf-Strategie verabschiedeten.

In der Retrospektive ist dies nur noch eine unbegreiflich lange Liste fataler Irrtümer. Man kann nicht in wenigen Wochen einen Bundestagswahlkampf erfolgreich organisieren. Das gelingt weder mit einem „Schulz-Zug“ noch mit der unsäglichen Arroganz eines Torsten Albig (SPD). Der damalige Ministerpräsident von Schleswig-Holstein sagte in einem autorisierten Interview mit der Illustrierten „Bunte“, die Ehe mit seiner Frau sei gescheitert, weil es nur noch „wenige Momente, in denen wir uns auf Augenhöhe ausgetauscht haben“, gegeben habe. Auch diese Landtagswahl ging verloren.

Und dann folgte das Desaster in Nordrhein-Westfalen, das mit einem Paukenschlag endete, als Hannelore Kraft am Wahlsonntag um 17 Uhr Martin Schulz anrief und ihm ankündigte, um 18.03 Uhr werde sie ihren Rücktritt von allen Ämtern erklären. Das könne sie doch mitten im Bundestagswahlkampf nicht machen, antwortete Schulz. Sie konnte. Die NRW-Ministerpräsidentin holte sich am Montag nach der Wahl-Pleite den obligatorischen Blumenstrauß in Berlin ab und wurde seitdem dort nicht mehr gesehen.

„Der Politiker arbeitet mit dem Streben nach Macht als unvermeidlichem Mittel. Machtinstinkt — wie man sich auszudrücken pflegt — gehört daher in der Tat zu seinen normalen Qualitäten. Die Sünde gegen den heiligen Geist seines Berufs aber beginnt da, wo dieses Machtstreben unsachlich und ein Gegenstand rein persönlicher Selbstberauschung wird.“

Diese Selbstberauschung war vorhanden und ist überhaupt nicht zu leugnen. Manche vermuteten damals, sie sei vom Willy-Brandt-Haus aus gesteuert worden. Martin Schulz sagt, dass dies nicht so gewesen sei, sondern dass sich die mediale Gesellschaft verselbstständigt habe, dass der „Schulz-Zug“ einfach losgefahren sei — ohne seinen Einfluss, ohne Dampf aus der SPD-Zentrale. Irgendwann ist er entgleist.

Und der Machtinstinkt? Den hat der Kanzlerkandidat ziemlich schnell verloren in diesem Moloch Berlin. „Da kommt einer, der hat mit Berlin nichts zu tun.“ So habe man über ihn gesprochen, sagt Martin Schulz Monate danach. Vieles und viele in Berlin blieben ihm fremd. Ihm fehlten die Leute aus der Brüsseler Zeit. Und er, ausgerechnet der Mann, der so systematisch und mit aller Macht das Amt des Parlamentspräsidenten angestrebt und erreicht hatte, resignierte de facto vor den Alltags-Unzulänglichkeiten einer Parteizentrale. „Die geschulte Rücksichtslosigkeit des Blickes in die Realitäten des Lebens, und die Fähigkeit, sie zu ertragen und ihnen innerlich gewachsen zu sein.“

So beschreibt Max Weber zwei wesentliche Eigenschaften eines Politikers. Das wohl war die Krux: Es reichte nicht, das Ungefähre, das nicht einmal mehr Mittelmäßige des Berliner Wahlkampf-Managements nur zu ertragen; denn zu stark war die Konkurrenz, war Angela Merkels Wahlkampf, dessen Drehbuch nicht im Konrad-Adenauer-Haus, sondern tatsächlich von Kanzleramtschef Peter Altmaier und Regierungssprecher Steffen Seibert geschrieben wurde — auch das gewiss nicht immer überragend, aber doch in der beruhigenden Gewissheit, dass der Gegner nur schwach war. Zu schwach.

„Ich hätte wie früher auf meinen Instinkt vertrauen sollen“, sagt Martin Schulz. „Ich hätte mich mit vielen Dingen einfach durchsetzen müssen. Es nicht getan zu haben, war ein großer Fehler.“ Und: „100 Prozent bei der Wahl zum Vorsitzenden, dann nur 20 Prozent bei der Bundestagswahl: Das ist hart. Als ich Vorsitzender der SPD wurde, lag die SPD in Umfragen bei 20 Prozent. Dann haben wir im Lauf des Jahres gezeigt, welche Potenziale die Partei hat. Die haben wir nicht halten können und sind wieder abgestürzt. Das war eindeutig zu wenig. Von den Niederlagen darf man sich nicht niederdrücken und von den Höhenflügen nicht fortreißen lassen.“ Aber genau das ist dann passiert. Die 100 Prozent seien letztlich „ein Fluch“ gewesen.

Europa soll sein Thema bleiben. Er möchte das nun wieder gründlich anpacken. Und er will dabei deutlich machen, wer der Autor des wichtigen Europa-Kapitels im Koalitionsvertrag war: Martin Schulz. Eins zu eins wurde diese Passage von Angela Merkel übernommen, akzeptiert von Horst Seehofer. Das ging am Anfang der Verhandlungen relativ zügig über die Bühne. Schwieriger gestaltete sich das Hin und Her um die Posten im Kabinett: Das war letztlich das Resultat eines langen und kräftezehrenden Nervenkrieges — 36 Stunden hintereinander ohne Schlaf. Auch das wirkt bizarr. Der SPD-Verhandlungsführer Schulz setzte sich am Ende durch.

Sein Bundestagsmandat wird Martin Schulz behalten und auch klare Positionen zur Europolitik beziehen. Er werde als Abgeordneter darauf achten, dass die zu Europa vereinbarten Punkte in der Legislaturperiode umgesetzt werden. „Europa ist das zentrale Thema in meinem politischen Leben.“ 2015 wurde er dafür mit dem Karlspreis ausgezeichnet. Drei Staatsoberhäupter hielten die Laudatio auf den Mann aus Würselen: Bundespräsident Joachim Gauck, der französische Staatspräsident François Hollande und der König von Jordanien, Abdullah II. bin al-Hussein. Das hatte es im Krönungssaal bis dahin noch nie gegeben.

„Denn mit der bloßen, als noch so echt empfundenen Leidenschaft ist es freilich nicht getan. Sie macht nicht zum Politiker, wenn sie nicht, als Dienst an einer ,Sache‘, auch die Verantwortlichkeit gegenüber ebendieser Sache zum entscheidenden Leitstern des Handelns macht.“

Und noch etwas treibt ihn um. Dass der Hass auf Europa nun in 90-facher Ausfertigung im Bundestag sitze, personalisiert durch 90 AfD-Abgeordnete. Da müsse man das politische Berlin doch aufrütteln, sonst werde es zu einem zweiten Washington; denn das politische Berlin habe mit dem Rest der Republik nur wenig zu tun. Das sei brandgefährlich.

Schon in unserem Januar-Interview hat er es so formuliert: „Ich glaube, dass im politischen Berlin, ich meine damit nicht die vier Millionen Einwohner der Stadt, sondern nur die politische Ebene, alles eine Rolle spielt, aber die Alltagsprobleme der Menschen spielen nur eine nachgeordnete Rolle. Umgekehrt spielt für die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger das politische Berlin eine nachgeordnete Rolle und ihre Alltagssorgen eine viel größere. Die Menschen haben das Vertrauen in die Politik verloren, weil sie den Eindruck haben, dass sich die Politiker nicht um die Alltagssorgen kümmern.“ Dass sich das ändert, damit will er sich nun befassen und dafür Verantwortung übernehmen — mit Europa als Leitstern im Weber‘schen Sinne. Ab der übernächsten Woche vor Ort, zurück in Berlin.