Missbrauch in Lüdge Erste Zeugen vernommen - Wie die Behörden total versagten
Düsseldorf · Der Ausschuss im Landtag hat mit der Vernehmung der ersten Zeugen im Missbrauchsfall Lüdge begonnen. Zutage tritt ein Totalausfall der Kommunikation und Aktenführung.
Er sei „extrem schockiert“, fasste Marcel Hafke (FDP) das Gehörte zusammen. Für den Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum Kindesmissbrauch in Lügde begann am Freitag sieben Monate nach seiner Einsetzung und fünf Monate nach der Verurteilung der beiden Haupttäter die entscheidende Phase – mit der Vernehmung der ersten drei Zeugen. Und wenn sich die Eindrücke dieses ersten Termins in der Folge fortsetzen, dann kommt auf den Ausschuss bei seinem selbst gesteckten Ziel, „mögliche Versäumnisse, Unterlassungen, Fehleinschätzungen und Fehlverhalten“ aufzuklären, noch ein unfassbarer Berg an Arbeit zu.
„Nichts Ungewöhnliches“ sei ihm beim ersten Besuch auf dem Campingplatz in Lügde-Elbrinxen aufgefallen, sagte beispielsweise Stefan I. aus. Der 54-jährige Sozialpädagoge, Mitarbeiter der Familienhilfe der Arbeiterwohlfahrt (Awo) Höxter, hatte im Juni 2018 die Betreuung des Haupttäters Andreas V. (57) und seiner siebenjährigen Pflegetochter übernommen. Von Verwahrlosung habe nicht die Rede sein können. „Das war weit, weit entfernt von einer Kindeswohlgefährdung.“
Nicht die einzige Äußerung, die im Ausschuss für Kopfschütteln sorgte. Besonders fassungslos reagierten die Abgeordneten auf die anscheinend komplett fehlende Kommunikation zwischen den beteiligten Behörden und den Verzicht auf jegliche Form der Dokumentation und Aktenführung. So gab I. an, zwar gewusst zu haben, dass das Sozialwerk Sauerland zuvor die Familienhilfe für Andreas V. wegen Unstimmigkeiten abgegeben hatte. Eine Übergabe zwischen den beiden Trägern fand aber nicht statt. Und vom Jugendamt Hameln-Pyrmont als Auftraggeber habe er auch nicht erfahren, dass es vom Vorgängerträger schon eine Meldung nach Paragraf 8a (Verdacht auf Kindeswohlgefährdung) gegeben hatte.
Von den Besuchen bei Andreas V. gibt es keinerlei Unterlagen
Insgesamt neun Termine hatte Sozialpädagoge I. bis Mitte November 2018 bei Andreas V. und seiner Pflegetochter, ohne dazu auf irgendwelche Notizen oder Berichte verweisen zu können. „Der Klient wollte die Hilfe nicht und ich musste erst einmal ein Vertrauensverhältnis aufbauen.“ Es sei nicht seine Aufgabe, ein vom Jugendamt genehmigtes Pflegeverhältnis infrage zu stellen. Bis zuletzt gab es seitens des Jugendamts auch keinen Hilfeplan für den Familienhilfe-Einsatz. Wolfgang Kuckuk, Geschäftsführer der Awo, konnte da nur einräumen: „Ich glaube, da ist ganz viel schiefgelaufen.“
Aber nicht erst in dieser letzten Phase bis zur Inobhutnahme der jahrelang schwerster sexualisierter Gewalt ausgesetzten Pflegetochter am 13. November 2018. Viel Leid hätte ihr erspart bleiben können, wären die Hinweise von Jens Ruzsitska (57) mehr als zwei Jahre zuvor schon ernstgenommen worden. Dem Ausschuss schilderte der Frührentner und Vater von fünf Kindern, wie er Andreas V. im August 2016 bei einem Grillfest kennengelernt habe. Als er sich verbeten habe, dass dieser seine kleinen Töchter auf die Schultern nehme, habe V. mit einem obszönen Spruch darauf geantwortet, warum er sie an seinem Hals spüren wolle. „Da habe ich ihm eine gescheuert.“
Aber trotz eines Anrufs bei der Notrufnummer in Fällen von Kindeswohlgefährdung sowie Kontakten mit der Polizei sei nichts passiert. Im Gegenteil: Obwohl auch bei einer Freundin, die für den Kinderschutzbund arbeitet, nach seiner Schilderung „sämtliche Alarmanlagen angegangen sind“, erhielt Ruzsitska später einen Anruf des Jugendamts, bei dem ihm gesagt worden sei, „ich solle vorsichtig sein mit dem, was ich sage, sonst riskiere ich eine Anzeige wegen Verleumdung und übler Nachrede“.
Zwei Jahre später, im August 2018, warnte Ruzsitska eine Bekannte und ihre Tochter vor V. und dessen vermeintlichen Betreuungsangeboten für Kinder auf dem Campingplatz in Lügde. Vergeblich – Monate später habe die Bekannte ihm gegenüber eingeräumt: „Er hat tatsächlich meine Tochter missbraucht.“ Erst die Anzeige dieser Mutter führte dann dazu, dass der Missbrauchsskandal endlich aufflog. „Ich war nur verbittert, was mir als Antworten gegeben wurde“, blickt Ruzsitska auf seine zahlreichen Interventionsversuche zurück. „Ich bin selber Missbrauchsopfer, sodass ich wahrscheinlich ganz andere Antennen dafür habe.“
Der Eindruck nach dem ersten Vernehmungstag: Diese Antennen hätten auch viele andere haben müssen.