Ex-Arbeitsminister gestorben Norbert Blüm, der kleine Boxer an Kohls Kabinettstisch
Bonn · Norbert Blüm war einer der letzten Repräsentanten der Bonner Republik. 16 Jahre saß der „Herz-Jesu-Marxist“ mit Helmut Kohl am Kabinettstisch. Dann überwarf er sich mit seinem Förderer und sprach nur noch im Traum mit ihm. Nun ist Blüm gestorben.
Norbert Blüm war 16 Jahre Bundesarbeitsminister und ist doch nur mit einem Satz in Erinnerung geblieben. Noch Jahrzehnte später wurde ihm dieser eine Ausspruch auf der Straße nachgerufen, mitunter geradezu entgegengeschleudert, wie der CDU-Politiker einmal der Deutschen Presse-Agentur schilderte. Mal eher augenzwinkernd-freundlich, oft aber höhnisch und manchmal sogar in dem für ihn typischen Dialekt: „Die Rente ist sischer!“
Auch mit über 80 Jahren war Blüm noch jederzeit bereit, diesen Satz zu verteidigen. „Und zwar mit einer gewissen Wut im Bauch“, wie er der dpa versicherte. Blüm sagte von sich selbst, er wäre ein „alter Rummel-Boxer“, der den Schlagabtausch brauche. Er war ein kleiner, aber kompakter und beweglicher Mann, der noch im hohen Alter einen festen Händedruck hatte und einem direkt in die Augen sah. Jetzt ist er im Alter von 84 Jahren gestorben. Das teilte sein Sohn am Freitag der Deutschen Presse-Agentur in Bonn mit.
Blüm war der einzige Bundesminister der Kohl-Ära, der gleichzeitig Mitglied der IG Metall war. Er galt als „Herz-Jesu-Marxist“, als überzeugter Anhänger der katholischen Soziallehre. In seiner Jugend war der Arbeitersohn aus Rheinhessen Pfadfinder und Messdiener gewesen, bevor er sich als Werkzeugmacher bei Opel in seiner Geburtsstadt Rüsselsheim verdingte. Dann machte er Abitur auf dem zweiten Bildungsweg und studierte in Bonn Philosophie, Germanistik, Geschichte und Theologie.
Von 1968 bis 1975 war Blüm als Hauptgeschäftsführer der CDU-Sozialausschüsse tätig. Als Helmut Kohl 1982 Bundeskanzler wurde, berief er den Weggefährten als Arbeits- und Sozialminister in sein Kabinett. Dort durfte Blüm von nun an 16 Jahre im Maschinenraum des Sozialstaats ziemlich eigenständig schalten und walten, denn als Repräsentant des CDU-Arbeitnehmerflügels war er einer der Pfeiler des Kohlschen Machtsystems. Mit seinem Namen verbunden bleibt die 1995 gegen erhebliche Widerstände eingeführte Pflegeversicherung. 1986 plakatierte er sein späteres Mantra, ursprünglich nicht „Die Rente ist sicher“, sondern „Denn eins ist sicher: Die Rente“. Helmut Schmidt habe das vor ihm übrigens auch schon so gesagt, erwähnte er hin und wieder.
Sein Verhältnis zu Kohl bekam schon 1989 tiefe Risse, als er gemeinsam mit Rita Süssmuth und dem ehemaligen Generalsekretär Heiner Geißler versuchte, den zu diesem Zeitpunkt höchst unpopulären CDU-Chef zu stürzen. Stattdessen wollten sie dem beliebten baden-württembergischen Ministerpräsidenten Lothar Späth zur Macht verhelfen. Der schreckte aber davor zurück, seinen Hut in den Ring zu werfen. Dann fiel die Mauer, und der bis dato als „Birne“ verspottete Kohl mutierte zum „Kanzler der Einheit“.
Der vollständige Bruch kam 1999/2000 im Zuge der CDU-Spendenaffäre, als Blüm seinen einstigen Förderer mit deutlichen - vielleicht überdeutlichen - Worten kritisierte. Von da an wechselten die beiden kein Wort mehr miteinander. Auf Blüm angesprochen, sagte Kohl in einem Interview: „Der Mann ist mir völlig egal.“ Dennoch ging Blüm 2017 zusammen mit Geißler zu Kohls Beerdigung.
Im Ruhestand vollzog er noch einmal einen kräftigen Linksruck. Die Titel seiner Bücher lauteten zum Beispiel „Ehrliche Arbeit - Ein Angriff auf den Finanzkapitalismus und seine Raffgier“ oder „Aufschrei! Wider die erbarmungslose Geldgesellschaft“. In seinen Haltungen war er nahe bei Geißler, dessen misanthropische Verbitterung ihm allerdings fremd war. Während Geißler in seinen letzten Jahren zunehmend vom Glauben abfiel, konnte sich Blüm sein christliches Fundament erhalten. Die politische Auseinandersetzung blieb sein Lebenselixier. „Stellen Sie sich vor, ich hätte keinen Streit mehr“, sagte er. „Dann wäre ich schon tot.“
Geißler starb 2017 kurz nach Kohl. Beide erschienen Blüm nach eigenen Angaben danach aber noch des Öfteren im Traum. Über eine dieser Begegnungen mit Geißler berichtete er: „Es war schön. Wie in alten Zeiten. Wir haben uns im Traum unterhalten, als sei nichts passiert.“
Wenn man sich mit Blüm in seinem Gründerzeithaus in der Bonner Südstadt unterhielt, bekam man unweigerlich den Eindruck: Die Sorgen der Welt mochten ihn zwar drücken, aber er selbst war zufrieden mit seinem Leben. Er war ein Familienmensch, der sich im Kreise seiner drei Kinder und der Enkelkinder am wohlsten fühlte. Seit 1964 war er mit seiner Frau Marita verheiratet.
Am Ende wurde die Familie noch wichtiger für ihn: Nach einer Blutvergiftung war er seit 2019 an Armen und Beinen gelähmt und saß im Rollstuhl. Die Lähmung machte er erst vor einigen Wochen publik. „Wie ein Dieb in der Nacht brach das Unheil in Gestalt einer heimtückischen Blutvergiftung in mein Leben ein“, diktierte er seiner Frau für einen Beitrag in der „Zeit“. Schon ein kleiner Juckreiz unter dem Auge könne jetzt für ihn zum Problem werden, weil er sich nicht mehr kratzen könne.
„Im Horizont des Rollstuhls fällt der Rückblick anders aus als in der herkömmlichen Panoramasicht“, stellte er fest. „Was war wichtig, was bedeutungslos? Der Standpunkt wechselt mit dem Standort.“ Er war jetzt ganz auf sich selbst zurückgeworfen, ohne den Resonanzboden der Öffentlichkeit. „Die Krankheit zerstört unsere Allmachtsphantasien und dämpft unsere versteckten Überheblichkeiten. Alle Prestige-Vehikel, Orden und Ehrenzeichen verlieren ihre Bedeutung.“
Auch gelähmt hatte Blüm noch Ziele - zum Beispiel, wieder selbst ein Buch halten zu können, wie seine Frau im März der dpa sagte.
Seinen Lebensmut büßte Blüm auch durch diesen Schicksalsschlag nicht ein. Eigentlich genieße er einen privilegierten Status, sagte er: „Ich lebe wie Gott in Frankreich.“ Rund um die Uhr werde er bedient, einmal mehr sei die Familie sein Zufluchtsort.
Sterben wollte er wie sein Vater. Dessen letzter Satz war gewesen: „Es war alles sehr schön.“