NSU-Prozess: Carsten S. bricht das Schweigen

Der 33-Jährige, der zuletzt in Düsseldorf lebte, sagt als erster der Angeklagten aus.

München. Carsten S. macht den Anfang. Er ist der erste Angeklagte, der im NSU-Prozess aussagt. Vorsichtig tastet sich der 33-Jährige voran, erzählt seine Geschichte. Anfangs schaut er oft auf ein Blatt Papier, auf dem er biografische Daten notiert hat. Dabei geht es zunächst nur um Persönliches — die Anschläge des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU), die mögliche Beteiligung von Carsten S. spielen erst mal noch keine Rolle.

Es ist die Geschichte eines homosexuellen Jungen aus der Provinz, der in Jena Anschluss sucht — und ihn in der rechten Szene findet. Carsten S. ist etwa 13 Jahre alt, als er merkt, „dass etwas nicht stimmt“. Bei einem Aufklärungsheftchen, das anfang der 90er in der Schule verteilt wurde, interessieren ihn die Bilder von Jungen mehr als die von Mädchen. Als er eine Bemerkung darüber macht, schauen ihn alle an. „Da habe ich gemerkt, dass ich einen Fehler gemacht hab’“, erzählt Carsten S.

In die Neonazi-Szene gerät Carsten S., der zuletzt in Düsseldorf lebte, weil er sich in der Berufsschule in einen Jungen verguckt — und der ist rechts. Schließlich gibt es ein Schlüsselerlebnis: Die NPD-Demonstration gegen die Wehrmachtsausstellung in München. Carsten S. sucht Kontakt zur Szene, übernimmt Aufgaben, wird bei den „Jungen Nationaldemokraten“ (JN) aktiv, der Jugendorganisation der rechtsextremen NPD.

Ende 1999, Anfang 2000 dann der Entschluss zum Ausstieg. S. sollte Landesvorsitzender der JN werden. „Dann komme ich nicht mehr raus“, habe er gedacht. Und er erinnert sich an eine Bemerkung des ebenfalls Mitangeklagten Ralf W., der damals eine Größe in der Neonazi-Szene war: „Mich würde es ankotzen, wenn jemand über mich behaupten würde, dass ich schwul wäre“, soll W. gesagt haben. Da sei ihm klargeworden: Das sind nicht meine Leute, erzählt Carsten S.

W. sitzt zwei Plätze weiter, manchmal schaut er hinüber zu seinem ehemaligen Kameraden, regungslos. Nachdem Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos 1998 in den Untergrund gingen, machte W. Carsten S. zu seinem Verbindungsmann, um Kontakt zu halten — für S. eine Auszeichnung. Als die drei sich eine Waffe wünschten, beschaffte er die „Ceska“, mit der Böhnhardt und Mundlos neun Menschen erschossen — im Auftrag und auf Anweisung von W., wie S. in seinen Vernehmungen sagte. Deshalb sind die beiden angeklagt, wegen Beihilfe zu neun Morden.

Es hatte auch an diesem fünften Verhandlungstag lange gedauert, bis das Gericht zur Sache kam. Zunächst war wieder die Verteidigung der Hauptangeklagten Zschäpe am Zug — Verteidigerin Anja Sturm verlangte, das Verfahren gegen die Hauptbeschuldigte einzustellen. Es habe eine Vorverurteilung durch staatliche Stellen gegeben, ein faires Verfahren sei nicht mehr möglich.