Organspende — Skandal mit Langzeitfolgen
Manipulationen haben das Vertrauen erschüttert. Fachmann sieht dennoch Fortschritt.
Berlin. Es scheint ein Skandal ohne Ende: Seit in Göttingen im Juli 2012 Manipulationen bei Lebertransplantationen aufflogen, bleibt die Organspende in Deutschland ein Thema, das viele Emotionen weckt. Es geht nicht nur um den Ruf von Kliniken, sondern auch um das Gesundheitssystem und seine wirtschaftlichen Zwänge. Und da ist Hans Lilie, Jura-Professor in Halle (Saale), an der Schnittstelle von Medizin, Ethik und Recht. Also jemand, der eher nicht im Verdacht steht, dem Charme der Ärzte-Lobby sofort zu erliegen. Und er sagt überraschende Sätze wie: „Eigentlich ist die Manipulation in der Transplantation eine Erfolgsstory für die ärztliche Selbstverwaltung.“
Wie passt das alles zusammen? Es geht ja längst nicht mehr nur um Göttingen. Es geht um Verdachtsfälle in Regensburg, München und seit Jahresbeginn auch in Leipzig. Die Staatsanwaltschaften sind am Zug. Der Skandal zieht Kreise: Wer will noch Organe spenden? 12 000 Menschen in Deutschland warten darauf. Von Januar bis September wurden 829 gespendet — 70 weniger als im gleichen Zeitraum 2011.
Was Lilie mit Erfolgsstory meint, hat mit den Folgen von Göttingen zu tun. Auch für ihn war der erste Verdacht quälend. Der Jurist war entsetzt und schockiert — vor allem als Vorsitzender der Ständigen Kommission Organtransplantation der Bundesärztekammer. Heute gehört er zum Kontrollteam, das unangemeldet Leber-Transplantationszentren besucht und Einsicht in die Unterlagen verlangt. Es ist ein Ehrenamt, es frisst viel Zeit.
Inzwischen kann er dem Skandal auch positive Seiten abgewinnen. „Wir haben aus Göttingen gelernt“, sagt er. „Wir haben das System so geändert, dass wir so etwas wie in Leipzig jetzt ohne weiteres aufdecken konnten.“ Seine Botschaft für die Zukunft lautet: „Diese Art von Manipulationen wird es nicht mehr geben.“
Es habe sie schon seit Göttingen nicht mehr gegeben, auch der jüngste Leipziger Verdacht beziehe sich auf die Vorjahre. Insgesamt 38 Patienten sollen in Leipzig fälschlicherweise als Dialyse-Fälle geführt worden sein, um sie auf der Warteliste für eine Spenderleber nach oben rutschen zu lassen. Der Direktor der Transplantationsklinik und zwei Oberärzte wurde vom Dienst suspendiert. Die Staatsanwaltschaft Leipzig hat Vorermittlungen aufgenommen.
Bis Dezember sei es gelungen, Gesetze und Arbeitsregeln für die Transplantationsmedizin umzukrempeln — zum Beispiel durch neue Kontrollen und fachübergreifende Konferenzen für die Organvergabe, betont Lilie. „Das kann keine staatliche Organisation so schnell.“
Längst nicht alle sehen das so positiv. Patientenschützer wie Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz (vormals: Hospizstiftung) fordern, die Zahl der 47 Transplantationszentren in Deutschland zu halbieren. Sogar unter Lebertransplanteuren wünschten sich einige weniger Zentren, sagt auch Lilie. Weil dann der Druck wegfiele. Ein wirtschaftlicher Druck, der diesen Skandal möglicherweise erst heraufbeschworen hat. Eine Lebertransplantation bringt einer Klinik etwa 120 000 Euro Umsatz. 20 Operationen sind also lukrativer als zehn.