Nach Anschlag in Berlin Sicherheit: Feste sollen keine Festungen werden

Der Anschlag von Berlin hat das Schaustellergewerbe tief getroffen. Für die neue Saison fordert die Branche eine bundesweite Sicherheits-Leitlinie.

Foto: Melanie Zanin

Bonn. Der Redaktionsschluss für den Jahresbericht 2016 des Deutschen Schaustellerbundes (DSB) lag offensichtlich vor dem 19. Dezember. Sonst wäre auf die Kapitelüberschrift „Erfolgsgeschichte Weihnachtsmärkte“ wohl aus Pietätsgründen verzichtet worden. „Wir alle waren nach Berlin tief erschüttert“, sagt DSB-Präsident Albert Ritter. Und skizziert die Gefühlslage nach der Terrorattacke, den zwölf Toten und mehr als 50 Verletzten mit „Trauer, Anteilnahme und auch Wut. Wut über die Motive dieser Menschen, die für normal denkende Menschen nicht nachvollziehbar sind.“

Der Berliner Schaustellerverband ist Veranstalter des Weihnachtsmarkts am Breitscheidplatz. Und bundesweit alle Märkte ließen am Tag nach dem Anschlag Gedenkgottesdienste folgen. Doch dabei soll es nicht bleiben. Das Thema Sicherheit wird auch die 500 Schausteller des 68. DSB-Delegiertentages beschäftigen, der heute in Bonn beginnt und bis Samstag dauert.

Schon nach dem Lkw-Anschlag von Nizza hatte es erste Überlegungen für die neue Saison gegeben. „Aber nach Berlin kommt noch mehr auf uns zu“, ist Ritter überzeugt. Doch er sagt auch: „Wir wollen die Feste nicht zu Festungen machen.“ Eine Totalumzäunung und Betonisierung könne man sich nicht vorstellen. Zumal so unter Umständen nur „neue Hotspots“ geschaffen würden: Beim diesjährigen Münchner Oktoberfest hätten 600 zusätzlich eingestellte Sicherheitskräfte „mit keinerlei Fingerspitzengefühl“ bei den Einlasskontrollen für massive Rückstaus von der Wiesn bis zum Bahnhof gesorgt.

Eine Erfahrung, die Ritter dazu bewegt, vor Aktionismus zu warnen und Maßnahmen zu fordern, „die sinnvoll und nachhaltig sind“: „Wir brauchen zertifizierte Sicherheitskräfte und nicht irgendwelche Parkplatzwächter, denen wir nur eine neue Weste überziehen.“ Und man brauche einen mit Bundeskriminalamt und den Landeskriminalämtern abgestimmten einheitlichen Leitfaden, so wie nach dem Loveparade-Drama von Duisburg in NRW unter Federführung des Innenministeriums auch ein Leitfaden für die sichere Durchführung von Großveranstaltungen entstanden sei.

Nicht zuletzt sorgt mehr Sicherheit auch für höhere Kosten — und die wollen die Schausteller nicht allein tragen. Schon im Herbst sei nach Nizza der finanzielle Aufwand für eine Videoüberwachung auf 80 000 Euro pro Fest überschlagen worden. Auf NRW bezogen wären das jährliche Mehrkosten von zwei Millionen Euro.

Überhaupt will sich Ritter seine Vorstellung von Volksfesten als „Stätten der Integration“ nicht zerstören lassen. Er weiß, wovon er redet. Sein Fahrgeschäft ist in fünfter Generation in Familienhand. Seit 45 Jahren handelt es sich um einen Ausschankbetrieb, aber die Vorfahren zogen noch mit einer Kleinkunstbühne samt „schwebender Jungfrau“ und einem Kinematografen-Theater über die Jahrmärkte. Der Abschied davon sei sehr schwergefallen, „aber es ist der Zeitgeist, dass Essen und Trinken inzwischen noch etwas mehr gefragt sind“.

Gefragt sei jetzt aus seiner langjährigen Erfahrung bei der Sicherheitsfrage auch der Präventionsgedanke, so wie er in seiner Heimatstadt Essen umgesetzt worden sei. Im Stadtteil Altenessen nutzten verfeindete libanesische Großfamilien gerade öffentliche Feste wie den „Altenessener Frühling“ zu gewalttätigen Revierkämpfen. Zusammen mit einem engagierten Streetworker der Arbeiterwohlfahrt sei es mittlerweile gelungen, die Situation zu entschärfen — auch unter Einbindung von Mitgliedern der libanesischen Gemeinde.

Sie stehen selbst auf dem Platz und sprechen die Jugendlichen an; es gab gemeinsame Grillabende und auch der Imam stattete dem Fest einen Besuch ab. Gleichzeitig setzen die Organisatoren auf Entschiedenheit, wenn es brenzlig wird. „Es muss allen klar sein: Im Hintergrund steht die Hundertschaft.“

Seit 2003 kämpft Ritter an der Spitze des weltweit größten Schaustellerverbandes um den Erhalt der Volksfestkultur, auch wenn der jüngste Versuch, sie als immaterielles Kulturerbe durch die Unesco anerkennen zu lassen, schon auf deutscher Ebene gescheitert ist. Die Liste der Baustellen ist lang: von den alten Zugmaschinen, die zum Teil nicht mehr in die Umweltschutzzonen fahren dürfen, über das Sterben der kleinen Feste bis zur EU-Sicherheitsnorm 13814, die auch historischen Holzpferdkarussells das Leben schwer macht.

Karussells, wie Ewald Telsemeyer eines besitzt. Aus Osnabrück ist der 62-Jährige nach Bonn gekommen. Sein Karussell ist Anfang des vorigen Jahrhunderts gebaut worden, seit 1921 befindet es sich im Familienbesitz. Und jedes Jahr beim Weihnachtsmarkt hat es vor dem Osnabrücker Standesamt seinen Platz. Manches Brautpaar kehrt zum Hochzeitstag zu dem beliebten Fotomotiv zurück.

Die jüngste Sicherheitsüberprüfung hat Telsemeyers Karussell überstanden — und wartet jetzt darauf, wie der Besitz in der nächsten Generation geregelt werden kann. Die Töchter des Schaustellers haben andere Berufe gewählt. Aber eine Lösung für das Wahrzeichen ist in Sicht: „Wahrscheinlich wird es in eine Stiftung überführt.“