SPD-Bundesparteitag Sigmar Gabriel - Noch schlechter als Scharping
Sigmar Gabriel hat auf dem Bundesparteitag das zweitschlechteste Ergebnis eingefahren, mit dem jemals ein Genosse zum Vorsitzenden der SPD gewählt worden ist. Der Abgestrafte denkt nicht daran, um die Verweigerer zu werben.
Berlin. Den 12. April 1999 werden die Wuppertaler nie vergessen: Fünf Tote und 47 Schwerverletzte. Es ist das schwerste Unglück der Wuppertaler Schwebebahn; das bislang einzige, bei dem Menschen zu Tode kommen. In der Bundes-SPD erinnert sich kaum noch jemand an diesen Tag, vielleicht auch Sigmar Gabriel nicht. Es ist der Tag, an dem die SPD auf einem Sonderparteitag in Bonn einen amtierenden Kanzler abstraft, der mit der Nato in den Kosovo-Krieg gezogen ist. Acht Wochen nach dem Rücktritt von Oskar Lafontaine übernimmt Gerhard Schröder selbst. Die Partei „dankt“ es ihm mit einem Ergebnis von lediglich 75,98 Prozent. Der nimmt es gelassen und erklärt, er wolle nun das Vertrauen auch derer zu erlangen, die nicht für ihn gestimmt haben.
Sigmar Gabriel ist aus anderem Holz geschnitzt. Nachdem das Ergebnis von 74,27 Prozent verkündet ist, tritt der Vizekanzler und abgestrafte Vorsitzende an das Mikrofon. Und kündigt seinen Gegnern einen harten Kurs an. Es sei jedem klar, was er, Gabriel, wolle. Es gebe 25 Prozent, die das nicht wollten. „Aber mit der Wahl ist es dann auch entschieden“, sagt Gabriel. Niemand im Plenum des Bundesparteitags versteht das anders als das, was es ist: eine Kampfansage an ein Viertel der Partei.
Bis zu diesem Zeitpunkt ist für den Vorsitzenden, der von Wiederwahl zu Wiederwahl immer weniger Zustimmung findet, schon viel schief gegangen. Im Internet ergießt sich der Spott über die Partei, weil sie an einer elektronischen Abstimmung über ihren Vorsitzenden scheitert. Die rund 600 Delegierten sollen einen 16-stelligen Zahlen-Code in einen Tablet-PC eingeben. Dazu müssen sie sich mit einer vierstelligen PIN anmelden. Irgendwann sieht das Präsidium ein: Das klappt nicht. Schließlich werden Papier-Stimmzettel ausgegeben.
74,27 Prozent — das ist nicht nur noch schlechter als Rudolf Scharping, der im Juni 1993 mit 79,4 Vorsitzender wurde. 74,27 Prozent — das ist das zweitschlechteste Ergebnis, mit dem überhaupt je ein Genosse Vorsitzender der SPD geworden ist. Nur Oskar Lafontaine lag 1995 mit 62,2 Prozent darunter. Die Delegierten sind geschockt, als das Ergebnis verkündet wird. Sie stehen auf und klatschen, mehr hilflos als überzeugt; Gabriel sagt ihnen, dass sie sich setzen sollen. Er würde sich das Ergebnis gern damit erklären, dass er einigen in der Partei nicht links genug ist. Doch das erklärt nicht eine regelrechte Verweigerung von 25 Prozent. Dazu muss mehr zusammen kommen. Und Gabriel hat dafür gesorgt, dass es zusammen kommt.
Noch kurz vor dem Wahlgang klatscht er die Juso-Vorsitzende Johanna Uekermann rhetorisch regelrecht an die Wand. Das hat sich die Jungsozialistin mit einem frechen Interview, in dem sie Gabriel schlecht und Merkel gut bewertet, zwar wirklich verdient — aber auf die Delegierten wirkt es erschreckend. Schon am Vortag hat sich Gabriel mit einem sinnlosen Redebeitrag zur Flüchtlingspolitik fast lächerlich gemacht, weil die Partei ihrem Vorsitzenden nicht folgt.
Am Morgen vor der Wahl redet Gabriel fast zwei Stunden auf die Delegierten ein. Das soll staatsmännisch klingen, aber es ist etwas durcheinander. Er gibt die „arbeitende Mitte“ als Zielgruppe aus und lässt erstmals seinen Willen erkennen, der Partei als Kanzlerkandidat zur Verfügung zu stehen. Er wolle regieren und nicht nur mitregieren, „natürlich vom Kanzleramt aus, von wo sonst?“ Er veranstaltet ein großes Werben um die Gewerkschaften. Er überrascht die Basis mit dem Versprechen, im Fall der Ausweitung des Bundeswehreinsatzes im Syrien-Krieg, die Mitglieder vor einer Zustimmung zu befragen.
Wo Gabriel so viele erwähnt, fällt aber auch auf, welche Themen er meidet. Weil er die Debatte nicht will oder weil sie ihm gleichgültig sind. Vielleicht auch nur, weil er an dieser Rede am Vortag bis in die Nacht gearbeitet hat, und weil stellenweise nicht klar ist, an wen sie sich eigentlich richtet. Wirklich an den Parteitag? Oder doch an die Christdemokraten, die ab Sonntagabend in Karlsruhe zusammen kommen, und die er immer wieder attackiert. Die am Vortag gefeierte rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Manu Dreyer erwähnt er mit keinem Wort. Auch die scheidende Generalsekretärin nicht. Das Freihandelsabkommen TTIP, um das es am Sonntag auf dem Parteitag geht, oder die umstrittene Doppelspitze auf allen Ebenen der Partei, lässt Gabriel ebenfalls aus.
Alle seine Vorsitzenden bekommen ein besseres Ergebnis als er: Manuela Schwesig 92,2 Prozent, Hannelore Kraft 91,4 Prozent, Thorsten Schäfer-Gümbel 88 Prozent, Aydan Özoguz 83,6 Prozent, selbst der sperrige Olaf Scholz kommt auf 80,2 Prozent, Ralf Stegner immerhin noch auf 77,3 Prozent. 74,27 Prozent — das ist zu wenig, um Kanzlerkandidat zu werden. Aber es reicht dafür, dass es die SPD ihre Geschlossenheit kostet, um die sie so sehr gerungen hat.