Späte Kritik an Lenz’ „Deutschstunde“

Der 1968 erschienene Roman hat eine Debatte ausgelöst. Grund: Die Rolle von Emil Nolde in der Nazi-Zeit.

Berlin. Angesichts der ambivalenten Rolle von Emil Nolde in der Nazi-Zeit ist Siegfried Lenz’ Jahrhundertroman „Deutschstunde“ in die Kritik geraten. Nolde hatte dem heute 88-jährigen Autor als Vorbild für die integre Hauptfigur seines Romans gedient — obwohl er in Wahrheit ein glühender Verehrer Hitlers war. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ) warf Lenz deshalb kürzlich vor, Noldes Biografie „schöngeschrieben“ zu haben.

Die Berliner Literaturwissenschaftlerin Jutta Müller-Tamm hält die Kritik für bedenkenswert. „Wenn sich das so verdichtet und das Werk eindeutig daraus schöpft, dass die Leser Nolde hinter der Figur erkennen, dann handelt es sich tatsächlich um einen tendenziösen Umgang mit historischen Zusammenhängen“, sagte die Professorin der Freien Universität Berlin.

Auslöser der Diskussion ist die Nolde-Ausstellung im Frankfurter Städel-Museum. Im Katalog zu der Schau sind zahlreiche Dokumente versammelt, die Noldes (1867-1956) rechte Gesinnung belegen. Zwar galt er bei den Nationalsozialisten als „entarteter Künstler“ und hatte Berufsverbot. Dennoch nannte er Hitler „groß und edel“, sich selbst einen Vorkämpfer „gegen die alljüdische Bevormundung“.

In der „Deutschstunde“ komme das Wort Jude dagegen nicht ein einziges Mal vor, die Hauptfigur des Malers Max Ludwig Nansen (nach Noldes Geburtsnamen Hansen) sei ein lauterer Charakter mit unbeugsamem Mut vor den Mächtigen, kritisierte FAZ-Autor Jochen Hieber. Mehr als vierzig Jahre nach seinem Erscheinen habe der Roman damit einen Gutteil seiner Glaubwürdigkeit verloren, Entstehungs- und Wirkungsgeschichte der „Deutschstunde“ müssten umgeschrieben werden.

Die „Süddeutsche Zeitung“ reagierte spöttisch. „Natürlich ist Lenz’ Max Ludwig Nansen keinem anderen als Emil Nolde nachgebildet, und natürlich ist Lenz dem Bild erlegen, das Nolde nach 1945 von sich als dem großen verfemten Künstler gepinselt hat“, schrieb Willi Winkler. „Doch sollte der Literaturwissenschaftler Hieber schon mal vom Unterschied zwischen einer realen und einer fiktiven Figur gehört haben.“

So einfach ist die Lage nach Ansicht von Müller-Tamm aber nicht. „Man kann sich natürlich auf den abstrakten Standpunkt stellen, dass etwas, was als Roman daherkommt und auch nur Roman sein will, nicht auf mögliche Personen bezogen werden kann“, so die Expertin für Neuere Deutsche Literatur. „In dem Augenblick, in dem die Wirklichkeit durch das Werk durchscheint und der real existierende Maler identifizierbar ist, ist es eben nicht mehr rein fiktional. Dann wird ein anderer Pakt mit diesem Werk eingegangen.“