Der Anschlag von Berlin Wenig Zeit für U-Ausschuss Nummer sechs
Die Ungereimtheiten im Fall Amri könnten einen Untersuchungsausschuss notwendig machen
Berlin. Die Aufarbeitung werde in dieser Woche "mit ganzer Kraft" beginnen, meinte am Montag in Berlin der Sprecher des Bundesinnenministeriums. Aus gutem Grund: Im Fall des Berliner Attentäters Anis Amri "gibt es jeden Tag neue Informationen", so der Grüne Hans-Christian Ströbele. Es bestünden erhebliche Zweifel, dass die Sicherheitsbehörden in den Monaten vor dem Attentat "ordentlich gearbeitet" hätten. Ein Untersuchungsausschuss wird deshalb immer wahrscheinlicher. Er wäre der sechste in dieser Legislaturperiode.
Heute wollen Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU), CSU-Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt und der SPD-Fraktionsvorsitzende Thomas Oppermann über die weitere parlamentarische Aufarbeitung der Hintergründe des Anschlags vom 19. Dezember beraten. Im Gespräch ist auch die Einsetzung eines Sonderermittlers, der Licht ins Dunkel der zahlreichen Ungereimtheiten um den 24-Jährigen Tunesier Amri bringen soll. Im Bundestag halten viele Abgeordnete einen U-Ausschuss aber für das geeignetere Instrument, weil die Befugnisse und der parlamentarische Einfluss bei einem Sonderermittler unklar sind.
Nach Artikel 44 des Grundgesetzes muss der Deutsche Bundestag auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder einen Untersuchungsausschuss einsetzen. Das Gremium gilt als "schärfste Waffe" der Opposition. Dann werden Minister und selbst Kanzler zu Zeugen, Abgeordnete zu Ermittlern und jede Menge Akten mitunter zu Beweismitteln. Die Ausschüsse werden nach Skandalen oder Affären eingesetzt, um Missstände zu untersuchen. In einem Abschlussbericht geben die Mitglieder dann meist Empfehlungen, was sich verändern und verbessern muss.
Bestes Beispiel dafür ist der NSU-Untersuchungsausschuss, den seinerzeit alle Fraktionen beantragt hatten. Die Parlamentarier förderten viele Dinge ans Tageslicht, die das Versagen der Sicherheitsbehörden im Umgang mit dem jahrelang mordenden Terror-Trio belegten. Eine Reform des Verfassungsschutzes war die Folge und die Verbesserungen beim Datenaustausch der Behörden untereinander. Der Fall Amri lässt nun freilich wieder erhebliche Zweifel aufkommen, ob die Kooperation der Sicherheitsorgane tatsächlich an Qualität gewonnen hat.
In dieser Wahlperiode gibt es bereits ungewöhnlich viele Untersuchungsausschüsse. Der zu den Kinderporno-Ermittlungen gegen den Ex-SPD-Abgeordneten Sebastian Edathy hat seine Arbeit bereits beendet. Nach wie vor läuft der U-Ausschuss zur NSA-Späh-Affäre, der aber von der Öffentlichkeit kaum mehr wahrgenommen wird. Dann ist ein zweiter Untersuchungsausschuss zum rechten Terrornetzwerk NSU eingerichtet worden, weil der erste in der vorangegangenen Legislaturperiode noch zahlreiche Fragen unbeantwortet lassen musste. Außerdem gibt es ein spezielles Gremium zu den sogenannten "Cum/Ex-Geschäften", einer zweifelhaften Praxis im Aktienhandel, die wiederum nur Experten verstehen. Im letzten Jahr wurde noch der U-Ausschuss zum VW-Abgasskandal eingerichtet. Dem Gremium ist es zu verdanken, dass immer mehr Tricks von Herstellern bekannt geworden sind. Wer dafür politisch verantwortlich ist, danach fahnden die Mitglieder freilich nach wie vor.
Fünf Untersuchungsausschüsse in einer Wahlperiode gab es zuletzt in den Achtzigerjahren. Und das auch nur, weil der immer existente Verteidigungsausschuss zeitweise in einen U-Ausschuss umgewandelt wurde. Das ist möglich. Jetzt könnte also ein sechster dazu kommen. Das wiederum wird die Fraktionen vor Personalprobleme stellen. Schon für den Abgas-Ausschuss fanden sich nur schwer Parlamentarier, die zusätzlich die Aufgabe übernehmen konnten. Denn ein U-Ausschuss ist extrem aufwendig, man muss sich unter Zeitdruck durch Aktenberge arbeiten.
Ein Amri-Untersuchungsausschuss wäre zudem eine besondere Herausforderung, weil bereits im September der neue Bundestag gewählt wird. Das Gremium müsste sich also auf das Wesentliche konzentrieren. Doch was ist das Wesentliche? Darüber haben Regierung und Opposition meist eine unterschiedliche Meinung. Viele Fragen werden daher durch U-Ausschüsse auch nicht geklärt.