Würdigung Zum Tode Helmut Schmidts: Entschlossen, weltmännisch, weitsichtig
Der Altkanzler bediente die Gefühle der Kriegs- und Nachkriegsgeneration wie kein zweiter Sozialdemokrat.
Hamburg. Helmut Schmidts Tod reißt eine Lücke, die buchstäblich niemand füllen kann. Er war seit dem Ableben Richard von Weizsäckers die einzige noch lebende politische und moralische Autorität, hinter der sich fast alle Deutschen versammeln konnten. Das gilt für Ost und West, Alt und Jung, Arm und Reich, Links und Rechts. Helmut Kohl, ähnlich alt wie Schmidt und wegen der deutschen Einheit historisch eigentlich wichtiger, hat viel mehr polarisiert, weswegen er eine solche Zuneigung nicht genießt. Gerhard Schröders Leistung war zu kurzlebig, Angela Merkel ist noch mitten im Geschäft.
Aber woher kommt diese Verehrung der Deutschen für den Sozialdemokraten? Sein legendäres Krisenmanagement 1962 als Innensenator der Hansestadt bei der großen Elbeflut kann der Grund nicht sein. Das ist nur den wenigsten erinnerlich. Schmidt, der Macher, dieses Image erfuhr seine eigentliche Prägung erst während der Kanzlerschaft 1974 bis 1982. Es waren Krisenjahre. Das Öl-Embargo der Opec-Staaten, die Rezession, steigende Arbeitslosigkeit, dazu der RAF-Terror. Nach heutigen Maßstäben waren das zwar große, aber keine überbordenden Herausforderungen. Schröder war mit dem Kosovo-Krieg und dem Afghanistan-Einsatz konfrontiert, ganz ähnliche Kaliber. Das gilt für Merkel mit der Ukraine-, der Euro- und der Flüchtlingskrise erst recht.
Aber damals waren es die ersten Krisenjahre überhaupt nach dem langen Wirtschaftswunder, es war das Ende der Sorglosigkeit. Schmidt gab den Deutschen das Gefühl, dass ihr Schicksal bei ihm in sicheren Händen lag. Ihre Sicherheit und ihre Wirtschaft. Als dann die Befreiung der entführten Lufthansa-Passagiere in Mogadischu auch noch gelang — freilich um den Preis der Ermordung des ebenfalls entführten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer — war er endgültig zum „Macher“ geworden. Das ist er für die seit dem Kriegsende bis Mitte der 60er Jahre geborene Generation bis heute geblieben.
„Pflicht und Gelassenheit“ seien seine Leitmotive, hat Schmidt in der von ihm herausgegebenen Wochenzeitung „Die Zeit“ geschrieben. Und sich dabei ausdrücklich auf den altrömischen Kaiser Mark Aurel bezogen — unter einem solchen Vorbild machte er es selbstverständlich nicht. Oskar Lafontaine hat zu den von Schmidt bevorzugten Eigenschaften gesagt, dies seien „Sekundärtugenden“, mit denen man „auch ein KZ betreiben“ könne. Das war 1982, auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung um den Nato-Doppelbeschluss.
Mittelstrecken-Atomraketen auch in Deutschland, falls die Sowjetunion nicht zu Abrüstungsverhandlungen über ihre Arsenale bereit ist, das war der Kern der von Schmidt ersonnenen Strategie. Ein Pokerspiel mit dem Weltkrieg. Die Proteste dagegen und Schmidts Politik des schnellen Ausbaus der Atomkraft als Antwort auf die Ölkrise trugen zur Gründung der Grünen bei. Diese Partei hätte es ohne diesen Kanzler nicht gegeben.
Für die Ängste der jungen Generation hatte Schmidt kein Verständnis, auch nicht für ihr Lebensgefühl. Wohl auch deshalb war sein Abgang aus dem Kanzleramt so wenig glanzvoll. Der Koalitionswechsel der FDP erzürnte zwar die SPD-Basis noch lange. Aber mehr wegen der erlittenen Schmach. Demonstrationen und Fackelzüge jedenfalls, wie es sie noch gab, als die CDU ein konstruktives Misstrauensvotum gegen den damaligen SPD-Kanzler Willy Brandt richtete, gab es 1982 nicht.
Lafontaine zielte mit seiner Bemerkung auf eine andere Seite dieses Helmut Schmidt, eine, die ihn auch zum Idol bei den vor Kriegsende Geborenen machte. Seine Vergangenheit im Nationalsozialismus. Es gab zu Schmidts Zeiten an der SPD-Spitze ein Dreigestirn, das typischer nicht sein könnte für die deutsche Geschichte. Parteichef Willy Brandt, der im Exil in Norwegen gewesen war, Fraktionschef Herbert Wehner, der zeitweise den Kommunisten angehört und in Moskau überwintert hatte. Und eben Helmut Schmidt: Hitler-Jugend, Feldwebel, Ost- und Westfront, Eisernes Kreuz, einer mit „tadelfreier nationalsozialistischer Haltung“, wie eine Beurteilung damals lautete.
Er sei einer der Verführten gewesen, habe von allem nichts gewusst, erklärte Schmidt dazu. Erst recht nicht von Auschwitz. Aber mit dieser Haltung war er für die ältere Generation trotzdem achtbarer als einer, der sich wie Brandt „verdrückt“ und wie Wehner das Land „verraten“ hatte, wie viele damals sagten. Man sah sich ja selbst als Mitläufer und Verführte.
In den vergangenen Jahren ist Schmidt der Ersatz-Überkanzler der Deutschen geworden. Er stand für Entschlossenheit, Weltläufigkeit und Weitsicht in der Politik. Es war auch eine Projektion, eine Verklärung, weil Kohl die Weltläufigkeit fehlte und den meisten SPD-Kanzlerkandidaten die Weitsicht. Dass man ihn „Weltökonom“ hieß, störte ihn nicht. Dass er zu Recht „Schmidt-Schnauze“ genannt wurde, bewies er gerne. Freilich, viele aktive Politiker nahmen seine Ratschläge gar nicht mehr richtig ernst, auch, weil diese Ratschläge von der Zeit der bipolaren Welt geprägt waren.
Allerdings war Schmidt willkommen, wenn es galt, sich mit seiner Anwesenheit zu schmücken. 2011 war er der Stargast beim SPD-Parteitag. Als er damals eingeblendet wurde, kaum erkennbar hinter einer Nebelwand aus Qualm, die der notorische Zigarettenraucher überall erzeugte, wo er gerade war, johlte der ganze Saal: „Helmut, Helmut“. Da war er schon Kult.
Aber dann sprach er, und warnte leidenschaftlich davor, dass Europa auseinanderbrechen könne, und wenn das geschehe, verfalle es in die voreuropäische Phase der Missgunst und nationalstaatlicher Rivalitäten. Weil dies nie mehr passieren dürfe, komme Deutschland eine besondere Rolle zu. Es war eine herausfordernde Rede. Eine Rede mit weitem Blick. Die Gebrechen des Alters nervten ihn, aber bloß noch eine Kultfigur wollte Helmut Schmidt auch nach 96 Lebensjahren nicht sein.