Interview: „Der Fall Ohnesorg wird vielleicht nie restlos geklärt“

Marianne Birthler über die Arbeit der Stasi, die neuen Erkenntnisse und die Kritik an der von ihr geleiteten Unterlagenbehörde.

Berlin. Ein sensationeller Fund der Stasi-Unterlagenbehörde sorgt seit Ende Mai für Schlagzeilen: Danach war der Westberliner Polizist Karl-Heinz Kurras, der am 2. Juni 1967 den Studenten Benno Ohnesorg erschoss, Mitglied der Stasi. Wir sprachen mit der Leiterin der Behörde, Marianne Birthler, über den Fall und die Folgen.

Frau Birthler, nach der Veröffentlichung der Kurras-Akte ist Kritik laut geworden, Ihre Behörde arbeite die Stasi-Vergangenheit nicht systematisch genug auf.

Birthler: Ich halte diesen Vorwurf für absurd. Er wird seit Jahren von immer den selben drei bis vier Kritikern erhoben, ohne dass sie dafür Belege haben. Im aktuellen Fall waren beispielsweise die Akten zu Karl-Heinz Kurras vollständig zugänglich.

Hängt die Kritik vielleicht auch mit einem Missverständnis über die Arbeitsweise Ihrer Behörde zusammen?

Birthler: Das ist möglich. Zwar werden auch bei uns einige Forschungsprojekte bearbeitet. In erster Linie sind wir aber ein Dienstleister. Wir haben den Auftrag, die Unterlagen der Stasi zu sichern und auf Nachfrage herauszugeben - für die persönliche Akteneinsicht von Privatpersonen sowie an Forscher und Journalisten. Da es sich oft um hochsensible Daten handelt, arbeiten wir dabei nach strengen Regeln.

Am Wochenende wurde bekannt, dass es eine zweite Akte zu Kurras gibt. Gibt sie mehr Aufschluss über die Hintergründe des Ohnesorg-Falls?

Birthler: Inhaltlich geht nicht viel aus der Akte hervor. Sie sagt nur aus, dass die Führung des Staatssicherheitsdienstes noch 1987 Interesse an Kurras hatte und dass diese Akte im November 1989 eigentlich vernichtet werden sollte.

Wird die Frage, ob die Stasi eine Ermordung von Ohnesorg in Auftrag gab, Ihrer Ansicht nach jemals geklärt werden?

Birthler: Vielleicht nie restlos. Aus den Akten, die uns bislang vorliegen, ergibt sich aber, dass die Stasi von dem Vorfall überrascht wurde. Das spricht gegen einen Auftragsmord.

Im Zusammenhang mit dem Fall Kurras sind auch Forderungen laut geworden, jetzt gezielt mögliche Zusammenhänge zwischen der Stasi und der 68er-Revolte zu klären.

Birthler: Diese Diskussion ist ja schon in vollem Gange. Interessant ist dabei nicht nur die Rolle von Kurras, sondern die Frage, wie weit die West-Berliner Polizei von der Stasi unterwandert war. Immerhin liegt uns ein sogenannter Operativer Vorgang des Ministeriums für Staatssicherheit zur Westberliner Polizei vor, der 180 Bände umfasst.

Könnte der Fall Kurras auch eine Art Katalysator zur weiteren Aufklärung sein?

Birthler: Nach der Veröffentlichung der Kurras-Akte hat die Nachfrage von Forschern zu Unterlagen über das Ende der 60er und den Anfang der 70er Jahre zugenommen, und in den Medien hat eine lebendige Diskussion begonnen. Es ist ja oft der Fall, dass bestimmte Diskussionen erst durch einen konkreten Fall ausgelöst wurden. Denken Sie nur an die aktuelle Debatte, ob die DDR ein Unrechtsstaat war. Das fing auch klein an, und plötzlich diskutiert die halbe Republik darüber. Solche Debatten sind sehr wichtig.

Derzeit wird auch diskutiert, Ihre Behörde zu schließen und die Unterlagen an das Bundesarchiv zu übergeben. Ist diese Forderung 20Jahre nach dem Mauerfall nicht berechtigt?

Birthler: Ich halte die Frage für berechtigt, und der Bundestag wird sie in einigen Jahren auch wieder debattieren. Als die Stasiunterlagenbehörde gegründet wurde, dachte man, dass die Arbeit in zehn Jahren erledigt sei. Tatsächlich ist das Interesse am Thema Stasi immer noch sehr groß, und ein Ende der Aufarbeitung ist noch lange nicht in Sicht. Es gibt also gute Gründe, dass die Behörde weiter existiert, weil unsere Aufgaben nicht erledigt sind und unsere Arbeit weiter stark nachgefragt wird. Dazu gehört auch, die Öffentlichkeit über die Struktur und Arbeit des Staatssicherheitsdienstes zu informieren - eine Aufgabe, die das Bundesarchiv beispielsweise gar nicht leisten könnte. Und der allgemeine Wissensstand dazu ist noch gering.