Juden bei der Fremdrente außen vor
Neben den Spätaussiedlern kamen auch jüdische Zuwanderer aus der einstigen Sowjetunion nach Deutschland. Die einen haben aus ihrem früheren Leben Rentenansprüche, die anderen nicht.
Köln. Sie sind beide etwa gleich alt und in der ehemaligen Sowjetunion geboren. Die eine kam 1996 als Spätaussiedlerin nach Deutschland, die andere zwei Jahre früher als Kontingentflüchtling. Hier verdienen beide heute mit Sozialarbeit ihr Geld. Jetzt sitzen sich Olga Hartfil und Bella Liebermann erstmals gegenüber, im achten Stock über den Dächern von Köln-Ehrenfeld, wo Hartfil inzwischen in den Räumen des Vereins Phoenix anderen Zuwanderern bei der beruflichen Integration hilft. Als sie selbst einst aus der Sowjetunion kam, war in ihrem damaligen Pass beim Stichwort Nationalität „deutsch“ angegeben. Bei Liebermann stand „jüdisch“. Ein Unterschied, der nun kurz vor Erreichen des Rentenalters an Bedeutung gewinnt — und in einer Ungleichbehandlung mündet.
Rückblende. Im Zuge des Zerfalls der Sowjetunion und der Unabhängigkeit ihrer bisherigen Republiken steigt die Zahl der deutschstämmigen Aussiedler (ab Januar 1993: Spätaussiedler) aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion sprunghaft an. Bis heute sind etwa 2,4 Millionen Russlanddeutsche übergesiedelt. Die deutsche Staatsangehörigkeit ist ihnen von Anfang an sicher. Und wer bei seiner Einreise den Status als Aussiedler oder Spätaussiedler erhält, erwirbt dadurch auch Ansprüche aus dem Fremdrentengesetz.
In die Berechnung der deutschen Rente fließt damit bei Erreichen des Rentenalters auch die Hälfte der Jahre einer Erwerbstätigkeit in der einstigen Sowjetunion ein — im Falle von Alleinstehenden allerdings unabhängig vom Verdienst nur bis zu maximal 25 Rentenpunkten. Bei Aussiedlerehepaaren ist die gemeinsame Punktzahl auf 40 begrenzt.
Aber nicht nur Russlanddeutsche kommen mit dem Zerfall des Ostblocks nach Deutschland. Zugleich greift die Bundesrepublik nach der Wiedervereinigung auf das Kontingentflüchtlingsgesetz zurück, das zuletzt Mitte der 1980er Jahre rund 30 000 vietnamesischen Bootsflüchtlingen die Einreise ermöglicht hatte. Jetzt wird es auf die Juden in der einstigen Sowjetunion angewendet — eher stillschweigend und in Verantwortung vor der deutschen Geschichte.
Die russischen Juden sind von weit geringerer Zahl als die Spätaussiedler. Bis zum Inkrafttreten des neuen Zuwanderungsgesetzes 2005, das auch für sie die Hürden der Einreise deutlich erhöht, kommen etwa 220 000 Menschen nach Deutschland. Dabei wird die Frage, wer überhaupt Jude ist, weltlich beantwortet: Während das jüdische Religionsgesetz allein Kinder jüdischer Mütter oder zum Judentum Übergetretene als Juden und Jüdinnen definiert, dürfen Nachfahren jüdischer Mütter und/oder jüdischer Väter nach Deutschland auswandern.
Für die jüdischen Gemeinden in Deutschland hat diese jüdische Zuwanderung im doppelten Sinn gravierende Auswirkungen. Einerseits weisen zumindest die orthodoxen Gemeinden Zehntausende Menschen zurück, die als Juden gekommen waren, aber nach religiös-orthodoxem Verständnis keine Juden sind. Andererseits erfahren die Gemeinden trotzdem in den rund 15 Jahren der jüdischen Zuwanderung aus Russland eine ungeheure Belebung.
Ende der 1980er Jahre verzeichneten die jüdischen Gemeinden in Deutschland gerade noch 30 000 Mitglieder; religiöses jüdisches Leben stand kurz vor dem Erliegen. Heute gibt es wieder knapp 100 000 Gemeindemitglieder — zu etwa 90 Prozent russische Juden.
Aus dem Aufruf „Zedek — Gerechtigkeit für jüdische Zuwanderer im Rentenrecht“
Bella Liebermann ist im Dreiländereck zwischen Russland, Weißrussland und der Ukraine geboren. Später hat sie bis zu ihrer Auswanderung in Moldawien gelebt. Die Muttersprache ihrer Familie ist das aus dem Mittelhochdeutschen hervorgegangene Jiddisch, unter ihren deutschen Vorfahren finden sich Namen wie Silbermann und Schumann. Ihr Urgroßvater Rafael Silbermann wurde 1941 in Wilna von den Nazis ermordet.
20 Jahre arbeitet die studierte Musikerin in der Sowjetunion als Pädagogin und Journalistin — ohne irgendeine Relevanz für ihre künftige Rente. In Deutschland hält sie sich mit Musikschulunterricht über Wasser, studiert noch einmal und arbeitet seit sieben Jahren als Sozialarbeiterin für betreutes Wohnen. An ihre Rente mag sie nicht denken. „Ich arbeite, bis ich tot bin.“ Die Vorstellung eines Lebens von der Sozialhilfe ist ihr ein Graus. Darum fordert sie eine Gleichstellung in Rentenfragen mit den Spätaussiedlern. „Es geht um meine Würde und um meine Freiheit.“
Unterstützung erhalten sie und alle anderen betroffenen Juden durch die Initiative „Zedek — Gerechtigkeit für jüdische Zuwanderer im Rentenrecht“. Initiiert wurde der im April veröffentlichte Aufruf vom ehemaligen Bundestagsabgeordneten der Grünen, Volker Beck, dem Publizisten und Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik und dem Rechtsanwalt Sergey Lagodinsky. Zu den Erstunterzeichnern gehören unter anderem Kabarettist Jürgen Becker, der Dichter Wolf Biermann, Ex-Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin, Oded Horowitz, Vorsitzender des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Nordrhein, Theologin Margot Käßmann, Schriftsteller Navid Kermani, Bischof Franz-Josef Overbeck, Präses Manfred Rekowski sowie die früheren Bundestagspräsidenten Rita Süssmuth und Wolfgang Thierse.
In dem Aufruf heißt es: „Wer sich über blühendes jüdisches Leben in Deutschland und ,wieder wachsende’ jüdische Gemeinden freut, hat auch die Verantwortung für die soziale Lage der jüdischen Zuwanderer.“ Durch den diskriminierenden Ausschluss im Rentenrecht werde der Alltag der jüdischen Gemeinden in Deutschland von Altersarmut unter jüdischen Menschen bestimmt. In Zahlen ausgedrückt: Während etwa 2,4 Prozent der deutschen Wohnbevölkerung im Alter Grundsicherung beziehen, bewegen sich die Angaben bei den zugewanderten Kontingentflüchtlingen zwischen 30 und 50 Prozent.
Olga Hartfil hat Verständnis für Liebermanns Anliegen. Und warnt zugleich vor überzogenen Erwartungen. Sie selbst ist nach der Verbannung der Deutschen durch Stalin in Sibirien geboren. Ihr Vater hat zehn Jahre im Gulag verbracht. 17 Jahre hat sie in der Sowjetunion als Lehrerin gearbeitet. Und heute ist sie stolz darauf, dass niemand aus ihrer großen Familie je Arbeitslosengeld in Deutschland bezogen hat. Aber sie kennt auch unter Spätaussiedlern zahllose Fälle von Altersarmut.
Denn das Fremdrentengesetz greift ohnehin nur bei einem beschränkten Kreis von Menschen mit dem Spätaussiedler-Status, aber schon nicht mehr bei deren Angehörigen. Zudem zahlt nur Russland als einzige ehemalige Sowjetrepublik überhaupt Renten auch im Ausland aus. Sie werden von den deutschen Rentenbeträgen abgezogen. Aber die Beantragung in Russland und die notwendigen regelmäßigen Behördennachweise stellen für viele Spätaussiedler in Deutschland unüberwindliche Hindernisse dar.
„Eine Grundrente für alle wäre die beste Lösung“, sagt Bella Liebermann. Acht Jahre nach der Einwanderung in Deutschland hat sie sich einbürgern lassen. Wenn es ihr gut geht, vertraut sie beim Gedanken an ihr Alter „auf den lieben Gott“ und darauf, weiter arbeiten und mit ihrer Band Kol Colé Musik machen zu können. Wenn sie Zweifel hat, sagt sie: „Ich weiß nicht, wie das weitergeht.“