Analyse Kölner Silvester-Skandal: Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?
Die Polizei täuscht die Öffentlichkeit, die üblichen Hetzer verbreiten ihre „Wahrheiten“, Politiker verfallen in vollmundigen Aktionismus. Im hochgefährlichen Spiel mit begründeten Ängsten und erfundenen Gefahren rund um den Kölner Silvester-Skandal droht nachhaltiger Schaden für das gesellschaftliche Klima. Die Stimmung droht zu kippen.
Köln/Düsseldorf. Haben Sie als Kind „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann“ gespielt? Zur Erinnerung hier die Regeln: Ein Kind spielt den „schwarzen Mann“ und steht der Gruppe aller anderen Kinder gegenüber. Dann ruft das einzelne Kind: „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?“ Die Gruppe ruft zurück: „Niemand!“ Das einzelne Kind fragt: „Und wenn er kommt?“ Die Gruppe antwortet: „Dann laufen wir!“ Sodann laufen die Gruppe und das einzelne Kind aufeinander los. Der „schwarze Mann“ versucht, so viele Kinder wie möglich abzuschlagen. Die er erwischt, müssen ihm in der nächsten Runde beim Fangen helfen. Es gewinnt das Kind, das als letztes nicht gefangen wurde.
Der Ursprung dieser Totentanz- Variante liegt vermutlich in einer Verarbeitung der Pest- Epidemien des Mittelalters. Es ist ein Spiel mit der Angst. Die Angst wird durch den steten Wechsel von gefangen werden und selbst fangen spielerisch bewältigt. „Die Angst vorm schwarzen Mann“, die seit Wochenbeginn von Hass-Kommentatoren, Para-Journalisten und sonstigen Schreihälsen mit den inzwischen üblichen Verunglimpfungen von Politik und angeblicher „Lügenpresse“ verbreitet wird, folgt ganz ähnlichen Regeln wie die Verbreitung der Pest. Aber sie ist kein Spiel. Sie ist der bewusste Versuch, mit gezielter Desinformation und fabrizierten „Wahrheiten“ das Land zu spalten, Mitläufer zu rekrutieren und eine rassistische Pogrom-Stimmung hoffähig zu machen. Es lohnt, den Ablauf dieses perfiden Spiels näher zu betrachten, weil er einem sich ständig wiederholenden Muster folgt.
Die akute Ereignis-Phase jeder größeren Nachrichten-Lage zeichnet sich dadurch aus, dass zunächst relativ wenige Fakten bekannt sind, die sich weder in Twitter-Geschwindigkeit überprüfen noch verlässlich einordnen lassen. Die Phase dauert so lange, bis möglichst verlässliche und voneinander unabhängige Quellen sie bestätigt haben. Alles andere ist nach professionellen Standards keine Nachricht.
In Köln spricht die Polizei nach der Silvesternacht (in der die Medien-Aufmerksamkeit auf die Terror-Warnung in München gerichtet war) zunächst von einer friedlichen Lage, während sich Zeugen und Opfer in den sozialen Netzwerken melden. Es dauert nicht lange, bis der erste bei Facebook postet: „Ist es das, wofür ich den halben Inhalt meines Kleiderschrankes gespendet habe? Ist das das neue Köln? Ist das das neue Deutschland?“
Sogleich schlägt die Stunde der Wahrsager, die ihre dunklen Prophezeiungen endlich als vermeintliche Wahrheit ausgeben: Die Flüchtlinge waren es! Und ihr schlagender Wahrheits-Beweis, dass es genau so sein muss, lautet: Die „Lügenpresse“ verschweigt es, also stimmt es! Weil in ihrer verqueren Welt alles, was die „Lügenpresse“ nicht schreibt, „wahr“ ist.
Ein Beweis: Die „Lügenpresse“ unterschlägt eine von einer Bestseller-Autorin im Netz verbreitete „Verschwiegenheitserklärung“, die zu unterschreiben Opfer von Ärzten der städtischen Kliniken genötigt worden sein sollen. Dass auf dem „Dokument“ schon der Klinikname falsch geschrieben ist — wen stört’s? Dass die Kliniken Köln auf die Fälschung hinweisen — na und? Wer wahrsagen kann, braucht keine Fakten.
Während die wirkliche Welt — das ist dort, wo Frauen vor Angst schreien und weinen, sie vergewaltigungs- und wohl auch mordbereiten Männergruppen ausgesetzt sind, die ihnen nicht nur die Handys, sondern vor allem die Würde rauben, dort, wo die Staatsgewalt hilflos zusieht und Täter nicht dingfest macht — sich in Traumatisierung, Schmerz, Horror und Wut zunächst selbst überlassen bleibt, schlägt im Internet die Stunde derer, die nicht nur die „Wahrheit“ kennen, sondern diese „Wahrheit“ auch erklären können, weil diese unabhängig von der Wirklichkeit ist.
Einer ihrer Wortführer ist inzwischen der Ex-Chefredakteur der „WirtschaftsWoche“, Roland Tichy, der nach der Methode „Ich weiß zwar nichts, aber das habe ich schon immer gesagt“ Köln zum Scheitern der Flüchtlingspolitik von Angela Merkel erklärt und dunkel droht, dass es noch schlimmer kommt: „Der Flüchtling wird so lange idealisiert, bis ihm alles erlaubt ist und die Flüchtlingsindustrie freie Hand für jede Maßnahme erhält.“ Und auch Alice Schwarzer tritt wieder auf den Plan und schreibt über sich selbst in der dritten Person: „Alice Schwarzer ist überzeugt: Die jungen Männer, die in der Silvesternacht den Terror in Köln gemacht haben, spielen Krieg mitten in Europa. Das sind die Früchte einer versäumten Integration.“
Egal, wer gerade an der Macht war, ob die Revolutionäre, Kaiser Napoleon oder später seine Bezwinger — der französische Staatsmann Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord (1754-1838) kam immer durch und gilt als Begründer des professionellen Opportunismus. Seinen berühmtesten Wahlspruch beherzigen derzeit viele Politiker, die Angst vor den nächsten Wahlen haben: „Da geht mein Volk. Ich muss ihm nach. Ich bin sein Führer!“
Und jetzt müssen alle ran. Von Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD, „Die Polizei muss sich die Frage stellen lassen, ob sie die Vorfälle wirklich schon in der Silvesternacht ernst genug genommen hat“) über NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD, „Wir nehmen es nicht hin, dass sich nordafrikanische Männergruppen organisieren, um wehrlose Frauen mit dreisten sexuellen Attacken zu erniedrigen“) und Katrin Göring- Eckardt (Grüne, „Es gibt keinen Bonus für Nationalität oder Aufenthaltsstatus“) bis zur Kanzlerin (CDU, „Ich glaube nicht, dass es nur Einzelfälle sind“). Wer hat Angst vorm schwarzen Mann? Alle!
Der Hauptschuldige war leicht ausgemacht, auch wenn er sich zierte: Wolfgang Albers (SPD, seit gestern Ex-Polizeipräsident). Seine Behörde hat am Morgen nach den Exzessen die Öffentlichkeit belogen und verschwiegen, dass die Mehrheit der (wenigen) überprüften Verdächtigen laut ihrer Papiere Flüchtlinge waren. Am Montag wird der Innenausschuss des Landtags in einer Sondersitzung über die Vorfälle am Kölner Hauptbahnhof in der Silvesternacht beraten. Es wird erwartet, dass Minister Jäger dort den aktuellen Stand der Ermittlungsergebnisse vorträgt und sich selbst den Rauswurf von Albers als entschlossenes Handeln zugute hält. Jäger muss wie schon nach der Loveparade-Katastrophe damit rechnen, dass CDU und FDP nichts unversucht lassen werden, ihn als Schuldigen zu überführen.
Schuld sein sollen auch die „gebührenfinanzierten öffentlich-rechtlichen Medien“, zumindest laut des 2014 wegen Geheimnisverrats zurückgetretenen Ex-Bundesministers Hans-Peter Friedrich (CSU), „die ihrem Informationsauftrag nur noch unzureichend nachkommen“. Friedrich wirft ARD und vor allem dem ZDF vor, ein „Schweigekartell“ gebildet zu haben, in dem es offenbar „Nachrichtensperren“ gebe.
Das Ergebnis dieses gefährlichen Spiels mit lautstarken, aber schwach fundierten Meinungen, mit vielen Verdächtigungen, aber nur wenigen schlüssigen Beweisen, hat die Berliner Boulevard-Zeitung „B.Z.“ am Mittwoch auf zwei Titelseiten zusammengefasst: Was das Internet behauptet — und was wir wirklich wissen.
Viele Zeitungsredaktionen haben aus den Erfahrungen und den Reaktionen ihrer Leserinnen und Leser auf die Berichterstattung nach der Germanwings- Katastrophe gelernt und halten sich diesmal mehrheitlich an die von Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgericht mehrfach festgestellten Anforderungen an „Verdachtsberichterstattungen“: Demnach darf zwar eine Tatsachenbehauptung, deren Wahrheitsgehalt unklar, aber von erheblichem öffentlichen Interesse ist, weder dem, der sie aufstellt, noch dem, der sie verbreitet, von vornherein untersagt werden.
Voraussetzung sind jedoch unabdingbar ein Mindestbestand an Beweistatsachen und eine sorgfältige Recherche. Der Pressekodex (das ethische Regelwerk für die deutschen Tageszeitungen) regelt zudem, dass in der Berichterstattung über Straftaten die Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten nur dann erwähnt wird, „wenn für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein begründbarer Sachbezug besteht“. Und: „Besonders ist zu beachten, dass die Erwähnung Vorurteile gegenüber Minderheiten schüren könnte.“
Gerade letztere Regel schürt erst recht „Lügenpresse“-Beschimpfungen. Trotzdem verfuhren die meisten Redaktionen in der bisherigen Berichterstattung entsprechend zurückhaltend und legten offen, auf welche Quellen sich ihre Informationen stützten, und was sie schlicht nicht beantworten konnten und weiterhin nicht können: Die Identität der Verdächtigen ist in der Mehrzahl weiter unklar. Ob Sexualdelikte das Ziel der Massen-Übergriffe waren oder als Verdeckungsstraftaten für Raub begangen wurden, ist in der Masse unklar. Wie und ob die Täter organisiert waren, wie und ob die Vorfälle in Köln und vielen anderen Städten zusammenhängen, ist unklar.
Klar ist am Ende dieser Woche lediglich eins: Die freundliche Willkommensstimmung des Sommers und auch noch des Herbstes gegenüber Flüchtlingen kühlt deutlich ab. Und sie könnte genau dort kippen, wo sie begann — auf dem Bahnhof.