Seiteneinsteiger an jeder zweiten Schule
Eine Forsa-Umfrage bei Schulleitern zeigt: In NRW nimmt die Arbeit mit Personal ohne Lehramtsstudium immer weiter zu.
Düsseldorf. Als Grundschulrektorin in Arnsberg kann Anne Deimel (51) einerseits von einer hohen Berufszufriedenheit berichten: „Mir ist sehr klar, wie wichtig unsere Aufgabe für die Gesellschaft ist.“ Andererseits erlebt sie am eigenen Leib, wie der Belastungsfaktor wächst und wächst: „Wir müssen immer mehr Statistiken und Abfragen bearbeiten.“ Dazu der organisatorische Mehraufwand für den offenen Ganztag, die Inklusion und Integration. „Von außen ist das nicht vorstellbar.“
Als stellvertretende NRW-Vorsitzende der Lehrergewerkschaft VBE (Verband Bildung und Erziehung) kann sich Anne Deimel jetzt durch eine repräsentative bundesweite Forsa-Umfrage ihres Verbandes bestätigt fühlen. 1200 Schulleitungen an allgemeinbildenden Schulen wurden im Januar und Februar befragt. Die Ergebnisse wurden am Freitag im Rahmen des Deutschen Schulleiterkongresses in Düsseldorf vorgestellt — und sie belegen: Schulleiter leiden unter wachsenden Aufgaben, höherem Verwaltungsaufwand und dem Lehrermangel. In NRW führt das dazu, dass unter den jüngeren Rektoren inzwischen jeder Dritte den Beruf nicht weiterempfehlen würde. Im Kontrast arbeiten die meisten dennoch „sehr gern“ (61 Prozent) oder „eher gern“ (35 Prozent).
Den Lehrermangel sehen die 252 befragten NRW-Rektoren als das größte Schulproblem an (64 Prozent), gefolgt von Gebäudefragen (28 Prozent) sowie Inklusion und Integration (25 Prozent). Als Konsequenz aus dem Lehrermangel ergeben sich zudem neue Probleme aus der steigenden Zahl der Seiteneinsteiger. In NRW sagten 53 Prozent der befragten Schulleiter, dass bei ihnen Kollegen ohne Lehramtsqualifikation beschäftigt seien. Nach Angaben des VBE-Landesvorsitzenden Stefan Behlau hat es 2017 allein in NRW quer durch alle Schulformen 600 neue Seiteneinsteiger im Lehrerberuf gegeben. „In manchen Regionen werden sie schon eher zur Regel als zur Ausnahme.“
Die Schulleiter beklagen aber ganz überwiegend eine fehlende Vorqualifizierung dieser Seiteneinsteiger. Wer von ihnen zwei Fächer unterrichtet, erhält zwar einen 18-monatigen Vorbereitungsdienst, muss aber von Beginn an unterrichten. Bei der Beschränkung auf ein Fach gibt es eine nur zwölfmonatige pädagogische Einführung bei gleichzeitiger Unterrichtungspflicht. Behlau fordert daher: „Es muss eine Vorqualifizierung geben, und zwar nicht unter sechs Monaten.“ Der VBE-Bundesvorsitzende Udo Beckmann befürchtet, „dass die Notlösung Seiteneinstieg auf Jahre festgeschrieben wird“. Der Lehrermangel in den Grundschulen setze sich zunehmend in der Sekundarstufe I fort. Und bei der Qualifizierung der Seiteneinsteiger gebe es bundesweit noch einen Flickenteppich.
Großen Verbesserungsbedarf an den Schulen sieht Beckmann bei den Anrechnungsstunden. Sie werden nach bestimmten Schlüsseln auf die Schulen verteilt und ermöglichen es Lehrern, die mit besonderen Aufgaben betraut sind, deswegen weniger zu unterrichten. Aber vor allem an Grundschulen und in der Sekundarstufe I gilt der Stundenfaktor als viel zu gering bemessen. Raschen Entlastungserfolg verspricht sich der VBE-Vorsitzende auch von einer Erhöhgun der Leitungszeit sowie der Etablierung multiprofessioneller Teams unter Einbindung von Schulpsychologen, Schulsozialarbeitern und Gesundheitsfachleuten.
Aber auf die Unterstützung der Politiker zählen die Schulleiter in NRW eher nicht. 82 Prozent geben an, dass Politiker den tatsächlichen Schulalltag nicht ausreichend beachten. Und die Schulpolitik in NRW erhält von ihnen im Durchschnitt nur die Note 4. Beckmann fasst es so zusammen: „Das Glas ist nicht einmal halbvoll. Die Politik muss nun dringend nachgießen.“