Sonntag: Die geschenkte Atempause
Kampagne: Der siebte Tag der Woche ist als Ruhetag bedroht – sagen die Kirchen. Mit einer großangelegten Aktion werben sie für den freien Sonntag.
Wuppertal/Düsseldorf. Der Duft vom frischgebackenen Kuchen kriecht in die Nase, der Kaffee ist eingeschenkt. Die ganze Familie hat sich zum Adventskaffee um den Esstisch versammelt. Nur eine Person fehlt: Die Mutter sitzt an der Kasse des Supermarktes. Sie muss arbeiten. Dieses Szenario ist Fiktion. Die evangelischen Landeskirchen in Nordrhein-Westfalen wollen genau dies verhindern - sie kämpfen für einen freien Sonntag.
Daher haben die Evangelische Kirche im Rheinland, die Lippische Landeskirche und die Evangelische Kirche von Westfalen eine Schutz-Kampagne für den arbeitsfreien Sonntag initiiert. "Der Sonntag ist die von Gott geschenkte Atempause im Alltag an alle Menschen", sagte Vizepräses Petra Bosse-Huber (Rheinland) gestern in Wuppertal. Diese Atempause dürfe man nicht leichtfertig verspielen. "Der Sonntag als Arbeitstag soll keine gesellschaftliche Regel, sondern eine Ausnahme bleiben", plädierte Präses Alfred Buß (Westfalen). Künftig sollen Menschen noch sagen können: "Gott sei Dank, es ist Sonntag!", so der Slogan der Werbeoffensive.
Der Sonntag soll der Tag des gemeinsamen gesellschaftlichen, familiären, politischen, kulturellen oder religiösen Engagements sein. Bedroht sei der Ruhetag von ökonomischen Zwängen im Zuge der Globalisierung, monierte Präses Buß. Die Aufhebung des grundsätzlichen Verbots der Sonntagsarbeit, die zunehmende Zahl an verkaufsoffenen Sonntagen in den Kommunen und die längeren Ladenöffnungszeiten seien das Ergebnis. "Wer glaubt, damit die Kaufkraft zu steigern, der irrt", so Buß. Ein Kunde, der werktags jeden Euro umdrehen müsse, könne auch sonntags nicht mehr ausgeben, als er habe.
Mit Bedacht hat die Evangelische Kirche die Präsentation ihrer Kampagne in die Elberfelder Citykirche verlegt. Landessuperintendent Martin Dutzmann (Lippe) zeigte am Beispiel der Bergischen Stadt die möglichen Gesetzesspielräume auf. "Theoretisch könnte man ein halbes Jahr lang sonntags in Wuppertal einkaufen", so seine These. Neben den beiden verbindlichen verkaufsoffenen Sonntagen für ganz Wuppertal stehen den einzelnen Bezirken jeweils zwei weitere Sonntage zur freien Verfügung, an denen die Ladentüren geöffnet werden. In der Summe wären das 22 Sonntage. "Die Einzelhändler sollen diesen Rahmen nur mäßig nutzen", sagte Dutzmann.
Die Vertreter der evangelischen Kirche warnen die Landesregierung vor den langfristigen Folgen der Aufhebung des Arbeitsverbots am Sonntag. Wirtschaftsministerin Christa Thoben (CDU) sehe laut dem Präses keine negativen Auswirkungen für die Arbeitnehmer. Präses Buß verwies auf das Phänomen, dass immer mehr Menschen, besonders Frauen unterer Lohngruppen, an Sonn- und Feiertagen arbeiten müssten. Dieses Beispiel spiegle die Bequemlichkeit der einen auf Kosten der anderen. Das Leben sei mehr als "Arbeiten, Kaufen und Besitzen", stellte Dutzmann fest. Der am sechsten Schöpfungstag erschaffene Mensch habe am siebten Tag der Genesis frei, zitierte er die Bibel. Dieser freie Tag sei ein Gott zu verdankendes und von keinem Menschen streitig zu machendes "Lebensrecht".
Thomas Junker (27) weiß sofort beim Aufwachen, welcher Wochentag ist: Junker wohnt an einer vielbefahrenen Hauptstraße. "Sonntags ist der einzige Tag, an dem viel weniger Autos fahren. Man hat das Gefühl, dass alle zur Ruhe kommen", sagt der 27-jährige Student der Heinrich-Heine-Universität. "Erst seit ich durch mein Studium und das Jobben so eingespannt bin, haben ich den Sonntag wirklich schätzen gelernt", so Juncker. Für ihn sei "freie Zeit Luxus" geworden. Diese verbringt Juncker mit seiner Freundin. "Wir gehen im Park spazieren, spielen Boule oder unternehmen etwas mit Freunden", erzählt der junge Mann. Einkaufen am Sonntag ist für ihn kein Thema: "Das kann man eben schnell in der Woche erledigen. Der Einzelhandel hat schon bis spät abends geöffnet. Irgendwann reicht es auch mal."
Christiane Lammers (46) aus Hagen ist der Sonntag sehr wichtig: "Es ist der Tag in der Woche, der ein bisschen Ruhe in den Alltag bringt", sagt die 46-Jährige. "Am Sonntag ist eine ganz andere Atmosphäre als an Werktagen." Aber eigentlich ist es bei Lammers nie ruhig. Auch am Wochenende gönnt sich die Dozentin der Fernuniversität Hagen keine Verschnaufpause von der Arbeit: Häufig gibt sie sonntags Seminare oder ist politisch aktiv, besucht etwa Demonstrationen. "Für mich ist der Sonntag der Tag der Familie, den man schützen muss", sagt Lammers und verweist auf die Doppelbelastung der im Einzelhandel tätigen Frau, falls diese künftig auch sonntags arbeiten müsste. "Sie muss einen Spagat zwischen Familienleben und Arbeit hinlegen."
Franz Metten (65) aus Willich ist der Sonntag heilig. "Ich bin Katholik und gehe jeden Sonntag in die Kirche", sagt Metten. Bewusst unternimmt der Rentner am Sonntag andere Sachen. "An diesem Tag bleibt mein Motorrad in der Garage stehen", sagt der 65-Jährige. Für Metten als zweifachen Vater ist der Sonntag ein Familientag: "Die ganze Familie trifft sich zum Kaffee trinken oder wir gehen zusammen im Wald spazieren", gibt er Einblick in sein Privatleben. "Die Menschen können sonntags durchatmen und haben Zeit für sich", sagt Metten und ergänzt: "Ich finde es unmöglich, wenn Arbeitnehmer neuerdings auch noch sonntags arbeiten müssen. Das darf keine Selbst- verständlichkeit werden."
Nach biblischer Tradition ist der Sonntag der "Tag des Herrn". Schon der erste christliche Kaiser Konstantin der Große erklärte 321 den siebten Tag der Woche zum Feiertag. Und 1686 Jahre später gibt es kaum einen Bundesbürger, der den Artikel 140 des Grundgesetzes, der den Sonntag als staatlich anerkannten Feiertag schützt, gerne kippen würde - da sind sich selbst die Demoskopen einmal ungewohnt einig. Nichtsdestotrotz hat der Wandel von einer Industrie- zu einer Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft Gestalt und Organisationsform der Arbeit verändert, in Deutschland genauso wie in anderen europäischen Staaten. Für den Sonntag bedeutet das: Er wird als Relikt einer guten alten Zeit vermutlich leider schon bald der Vergangenheit angehören. Überraschend ist: Es geht nur selten ein Aufschrei durchs Land.
Vor einigen Jahrzehnten war das noch anders. Einst kämpften die Deutschen vehement für die Arbeitszeitverkürzung und ein freies Wochenende, was in dem eingängigen Slogan der Gewerkschaften gipfelte: "Samstags gehört Vati mir." Zugegeben, der Samstag ist nicht zuletzt für den Einzelhandel längst zu einem ganz gewöhnlichen Arbeitstag verkommen. Doch fern ab der Wirtschaftszweige und Dienstleistungen, die an Sonntagen erforderlich sind, wollen wir heute auch frische Sonntagsbrötchen, Sonntagsshopping und einen Sonntagsbestellservice im Callcenter. Die Rund-um-die-Uhr-Gesellschaft gibt die Richtung vor. Genauso wie die internationale Konkurrenzsituation vieler Unternehmen stetig zunimmt, erliegt aber auch der Gesetzgeber mehr und mehr dem Druck, den einzigen arbeitsfreien Tag der Woche aufzugeben.
Dabei ist der Sonntag das letzte gesamtgesellschaftliche Kulturgut in einer säkularisierten Welt. Er ermöglicht 52 mal im Jahr die Ausnahme vom Alltag, gibt dem Leben einen Rhythmus von Arbeit und arbeitsfreier Zeit, von Anstrengung und Erholung. Und er ist Ausdruck von Lebensqualität in einer Zeit, in der sich die Menschen ihrer Arbeitswelt immer flexibler anpassen müssen und kaum Zeit miteinander verbringen können. Wenn man bedenkt, was auf dem Spiel steht, ist es nur richtig, dass die evangelische Kirche jetzt mit ihrer Kampagne ins Bewusstsein ruft: "Gott sei Dank, es ist Sonntag!"