Gastbeitrag Migrationskrise: "Ich fühle mit den Flüchtlingen, deswegen schließt endlich die Grenzen!"
Journalist Tim Röhn war in Spanien und in der Exklave Ceuta unterwegs. Er sagt: So geht es nicht weiter.
Ceuta. Vor ein paar Tagen war ich in Spanien und in der spanischen Exklave Ceuta. Ich schaute mir an, wie angesichts von Hunderten Migranten, die jeden Tag übers Meer kommen, der Süden des Landes reagiert. Ich habe mich mit den Menschen darüber gefreut, dass sie überlebt haben. Ich habe mit den Leuten, die ankamen, gesprochen. Die Menschen, es waren vor allem Westafrikaner, haben mir erzählt, dass sie nach Europa gekommen sind, weil in ihrer Heimat Armut herrsche. Eine junge Mutter hielt ihre beiden Kleinkinder im Arm und sagte: „Ihretwegen bin ich hier. Sie sollen es besser haben als ich.“ Ich konnte die Menschen verstehen.
Und doch: So geht es nicht weiter. Wir müssen realistisch sein und sagen, was Sache ist: Die große Mehrheit der Afrikaner, die nach Europa drängen, hat kein Recht auf Asyl hierzulande. Es sind Wirtschaftsmigranten, die nach einem besseren Leben streben. Ich würde mich als Humanisten bezeichnen, ich fühle mit den Menschen, die nach Europa wollen, aus welchem Grund auch immer. Weil ich es an ihrer Stelle wahrscheinlich genauso machen würde. Das Einzige vermutlich, das mich von ihnen unterscheidet, ist mein Glück, in Europa geboren zu sein. Getan habe ich dafür nichts. Deswegen fällt es mir schwer, die Abschottung unseres Kontinents zu fordern — und vor einem Jahr hätte ich es auch noch nicht getan.
Aber alles andere ist meiner Meinung nach ein Tunnelblick-Humanismus. Augen zu vor den Motiven derer, die kommen. Augen zu und durch, was die Interessen und die Sorgen der Europäer angeht. Das kann nicht gut gehen. Und es geht ja auch nicht gut. Überall in Europa wächst der Widerstand gegen die offenen Grenzen. Zum ersten Mal in der nachkriegsdeutschen Geschichte hat eine rechte Partei ein echtes, brennendes Gegenwartsthema — und damit weit größeren Erfolg als je zuvor.
Mein jüngster Trip nach Spanien und die Reisen in den vergangenen Monaten nach Ungarn, Bosnien, Kroatien, Italien, Frankreich, Griechenland, Bulgarien, Slowenien und Österreich haben mir klargemacht, dass es so nicht weitergeht. Hunderte Migranten setzen sich aktuell täglich an marokkanischen Stränden in Schlauchboote und paddeln in Richtung Spanien — ein fast aussichtsloses Unterfangen. Die spanische Seenotrettungsgesellschaft holt die Menschen aus dem Meer und bringt sie an die spanische Küste. Adolfo Serrano, seit 23 Jahren Chef der Seenotrettereinheit in Tarifa, sagte mir: „So etwas habe ich noch nie erlebt.“
Die Wirtschaftsmigranten, die da kommen, glauben, dass sie in Europa in Frieden und Wohlstand leben werden. Sie wissen nicht, dass niemand auf sie wartet. Dass viele von ihnen im Elend landen werden, weil ihr Schutzgesuch abgelehnt werden wird. Dieser tagtägliche Andrang von Menschen, wie er aktuell in Spanien zu beobachten ist, hilft weder Europa noch den Ankömmlingen selbst. Sich ein beliebiges Land als Wohnort aussuchen, das geht einfach nicht. Kein Sozialsystem ist dafür ausgelegt.
Und doch präsentiert sich die neue spanische Regierung des sozialistischen Ministerpräsidenten Pedro Sánchez seit der Amtsübernahme Anfang Juni als Wohltäter erster Klasse. Sánchez entschied, das Rettungsschiff „Aquarius“ mit 600 Migranten an Bord einlaufen zu lassen, nachdem Italien, Malta und Frankreich dem Kapitän die Einfahrt verboten hatten. Bloß: Die Menschen wollen gar nicht in Spanien bleiben, das Land muss also nicht für sie sorgen. Es war ein reiner Show-Akt.
Und in diesen Tagen, in denen der Süden des Landes dringend Hilfe bei der Bewältigung des Ansturms benötigt, in denen Bürgermeister Alarm schlagen — da schaut Madrid tatenlos zu. Die Situation sei „absolut unter Kontrolle und kontrollierbar“, sagte Innenminister Fernando Grande-Marlaska. Vor Ort war er übrigens nicht, um sich selbst ein Bild zu machen. Dann hätte er nämlich gesehen, dass nichts unter Kontrolle ist. Dass es nicht mal genug Unterkünfte gibt, um die Bootsflüchtlinge überhaupt von den Rettungsschiffen an Land zu lassen. Dass der Frust bei den Menschen in Andalusien, die selbst von einer Wirtschaftskrise betroffen sind, immer weiter wächst. All das zählt nicht. Es geht nur darum, den Schein zu wahren, die Botschaft in die Welt zu senden, mit viel Menschlichkeit und schönen Worten ließe sich diese Krise bewältigen.
Dass das Unsinn ist, hat auch mein Besuch in Ceuta gezeigt, der spanischen Exklave im Norden Marokkos. Ich war vergangene Woche da, ein paar Stunden zuvor waren Hunderte Migranten auf den Grenzzaun zugestürmt, hatten Polizisten mit Branntkalk, Exkrementen und Flammenwerfern attackiert. Mehr als ein Dutzend Beamte kam ins Krankenhaus, mehr als 600 Afrikanern gelang es, spanisches Territorium zu erreichen. Videos zeigen, wie Hunderte junge Männer grölend über die Straße am Grenzzaun in Richtung Stadtzentrum ziehen. Polizisten, mit denen ich gesprochen habe, sagten mir, sie hätten Angst vor dem nächsten Sturm. Sie sagten, sie dürften unter keinen Umständen mit Gewalt auf die Aggression der Migranten reagieren. Einer der Beamten holte eine Gasmaske aus dem Auto und sagte: „Das ist unser einziger Schutz.“ Ansonsten sei noch eine mündliche Ansprache erlaubt. „In den Augen Europas sind wir, die Grenzschützer, die Bösen und die Migranten die Guten“, sagte er noch.
Ich habe gedacht, dass die Geschehnisse in Ceuta eine Debatte über die katastrophalen Zustände an den spanischen EU-Außengrenzen erzeugen. Stattdessen diskutiert die Regierung Sánchez nun darüber, den Stacheldraht auf dem Grenzzaun zu entfernen, damit die Verletzungsgefahr für die Migranten reduziert wird. Was für ein fatales Signal! Es ist ein Schlag ins Gesicht für die spanischen Polizisten. Und es ist ein Lockruf für die Migranten, eine Botschaft: Wer Gewalt anwendet, kommt rein, versucht es doch einfach mal. Ein Pull-Effekt wird erzeugt, Menschen machen sich auf den Weg, bringen sich an der Grenze in Gefahr — nichts daran ist human.
Aber klingt das nicht schön, Abschaffung von Stacheldraht? Weil es immer noch viele Tunnelblick-Humanisten wie Pedro Sánchez gibt, die Wolkenkuckucksheime bauen, geht der Aufschwung der Rechten in Europa weiter. Sie sind die Gewinner dieser aberwitzigen Politik. Wegen dieser Ignoranz — auch bei uns in Deutschland ist sie immer noch in den Köpfen vieler politischer Entscheider verankert — driftet der Kontinent immer weiter nach rechts.
Beispiel Marokko: Ich war in den vergangenen Jahren sehr oft dort. Es ist eines meiner Lieblingsreiseländer. Muss man tatsächlich auf die Barrikaden gehen, weil die Marokkaner, die keinen Asylanspruch haben, dorthin zurückgeschickt werden sollen? Das ist weltfremd, das spielt Europas Rechtsextremen in die Hände. Wir müssen uns fragen: Wollen wir wirklich nur noch von Rassisten regiert werden oder von Menschen, die über die Abschiebung von 69 Afghanen Witze machen? Von einem Matteo Salvini, der Bootsflüchtlinge als „Menschenfleisch“ bezeichnet? Von Politikern wie die der AfD, die mit den Sorgen der Menschen spielen und Seenotretter als Kriminelle bezeichnen? Wollen wir das Ende von Schengen, das Ende der EU-Freizügigkeit? Nationalismus statt europäischer Solidarität? Wenn nicht, dann muss sich schnell etwas ändern, dann müssen die Dinge beim Namen genannt werden: Die, die das nötige Geld haben, und die Starken — sie schaffen es zu uns. Das sind aber nicht die, die am meisten leiden.
Ich war vor einigen Wochen in Bosnien-Herzegowina, ein paar Monate zuvor auf Lesbos: Dort gibt es viele Kriegsflüchtlinge, die Menschen, die unsere Hilfe brauchen. Dort herrscht pure Verzweiflung. Diese Leute haben weder Geld noch Kraft, weiterzukommen. Damit das Leid dieser Menschen ins Bewusstsein tritt und Maßnahmen getroffen werden können, sind erst einmal radikale Schritte nötig: Sicherung der spanischen EU-Außengrenze, zum Beispiel durch einen Deal mit Marokko. Und ganz sicher mit einer weiteren Verstärkung des Grenzzauns in Ceuta. Es muss geprüft werden, ob Bootsflüchtlinge nach ihrer Rettung zurück nach Marokko gebracht werden können — auch um weitere Tote auf dem Mittelmeer zu verhindern.
Und dann (oder noch besser gleichzeitig): den Fokus auf jene richten, die auf unsere Hilfe angewiesen sind. Der Resettlement-Deal zwischen Deutschland und der Türkei ist ein guter Anfang. Außerdem sollten umgehend Asylzentren an den EU-Außengrenzen eingerichtet werden, wo Asylanträge schon einmal grob vorgeprüft werden. Es braucht neben der Bekämpfung der Fluchtursachen endlich mehr legale Wege nach Europa. Wenn wir besser kontrollieren, wer zu uns kommt, dann können wir viel eher jenen helfen, die tatsächlich Hilfe benötigen. Die Menschen vor den Toren des Kontinents vergessen - das darf nicht passieren. Ich bin überzeugt davon, dass es dazu nicht kommen würde. Ich glaube an die Menschenfreundlichkeit und Solidarität in Europa, daran, dass es ein Interesse am Leid anderer gibt. Mitgefühl. Den Willen, zu helfen. Europäer, die Parteien wie die AfD wählen, sind derzeit in der Minderheit — noch? Wir sind kein Kontinent der Rassisten. Wir müssen nur der Realität ins Auge blicken, um angemessen handeln zu können.