Sonderfall Berchtesgaden Spahn sieht keinen zweiten Corona-Lockdown

Berlin · Ausgangsbeschränkungen wie im Frühjahr - damit wird Berchtesgaden womöglich kein Sonderfall bleiben, meinen viele Politiker. Dass das Leben coronabedingt wie im Frühjahr bundesweit wieder runtergefahren wird, sieht der Bundesgesundheitsminister derzeit aber nicht.

Foto: dpa/Markus Schreiber

Zu einem großflächigen Stillstand in Deutschland wie im Frühjahr wird es nach Ansicht von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) in der jetzigen Corona-Situation nicht kommen. „Einen zweiten Lockdown, so wie er immer gemeint wird, den sehe ich nicht“, sagte Spahn am Mittwoch auf die entsprechende Frage eines Nutzers der Social-Media-App Jodel. Dort hatten sich auch in der Vergangenheit bereits Spitzenpolitiker, unter anderem Kanzleramtschef Helge Braun (CDU), Fragen von Nutzern gestellt.

Spahn sagte, man wisse heute, dass es beispielsweise im Einzelhandel, bei Friseuren und in anderen Bereichen momentan keine Ausbrüche gebe, wenn auf die sogenannte AHA-Regel - Abstand, Hygiene, Alltagsmaske - geachtet werde. Diese Bereiche würde man auch nicht wieder schließen müssen.

Unterdessen ist der kritische Wert von 50 Corona-Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner in einer Woche auf die gesamte Bundesrepublik bezogen überschritten worden. Der Wert gilt als eine wichtige Schwelle für strengere Maßnahmen gegen die Verbreitung des Coronavirus. Das Robert Koch-Institut (RKI) gab die Zahl am Mittwoch mit 51,3 an, am Vortag lag sie bei 48,6. Bundesweit meldeten die Gesundheitsämter nach RKI-Angaben vom Mittwochmorgen zuletzt 7595 neue Corona-Infektionen binnen 24 Stunden. Der Wert bleibt damit knapp hinter der Höchstmarke von 7830 vom Samstag zurück.

Die Sorge vor einem erneuten Herunterfahren des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens in Deutschland kam auch wegen der stark wachsenden Zahl von Neuinfektionen und der Situation im bayerischen Landkreis Berchtesgadener Land auf. Dort ist wegen des Wertes von 236 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner binnen sieben Tagen seit Dienstag das Verlassen der eigenen Wohnung nur noch mit triftigem Grund erlaubt. Schulen und Kitas wurden ebenso geschlossen wie Hotels und Restaurants.

Spahn sagte, aktuell sehe man in Berchtesgaden, dass regional bei besonders vielen Infektionen alles „mal wieder zwei oder drei Wochen“ deutlich heruntergefahren werde, um es in den Griff zu bekommen. Das Virus sei dynamisch, und keiner wisse, was in drei Monaten sei. Aber Stand heute sehe er so eine Situation wie im März/April nicht.

Auch andere Politiker schließen ein ähnliches Vorgehen auf lokaler oder regionaler Ebene wie im Berchtesgadener Land nicht aus. Der Epidemiologe und SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach sagte den Zeitungen der Funke Mediengruppe: „Dinge wie in Berchtesgaden werden wir jetzt häufiger sehen. Wir können nur reagieren durch lokale Shutdowns, insofern sind die auch angemessen.“

Beim Städte- und Gemeindebund wird das auch für große Städte nicht ausgeschlossen. „Wenn die Zahlen so hochgehen, wie jetzt im Berchtesgadener Land, dann kann ich mir das - leider - auch in größeren Städten vorstellen“, sagte Hauptgeschäftsführer Gerd Landsberg der „Bild“-Zeitung.

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) zieht einen neuen Corona-Grenzwert mit zusätzlichen Beschränkungen in Betracht. In einer CSU-Fraktionssitzung am Mittwoch nannte er nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur die Zahl von 100 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner binnen sieben Tagen. Man müsse bei diesem Wert beginnen, weitere Maßnahmen in Betracht zu ziehen, Richtlinien vorzugeben, sagte Söder nach Teilnehmerangaben. Details ließ er offen.

Söder rief zu einer „nationalen Kraftanstrengung“ im Kampf gegen die Corona-Krise auf. Deutschland habe bei der Bewältigung der Pandemie derzeit kein logistisches, sondern ein „politisch-mentales“ Problem, sagte der CSU-Chef am Mittwoch im ZDF-„Morgenmagazin“. „Seit Monaten wird das Thema zerredet, kleingeredet, es wird schöngeredet“, sagte Söder. Es sei aber wichtig, die Pandemie wieder als Herausforderung zu verstehen.

Der stellvertretende CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Carsten Linnemann (CDU) wandte sich dagegen, durch „immer größere Drohkulissen“ und immer mehr „Daumenschrauben“ im Kampf gegen die Pandemie „ein ganzes Land für die Verfehlungen einiger weniger in Geiselhaft zu nehmen“, wie er in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (Mittwoch) sagte. „Wir hören zu oft die allerschärfsten Mahnungen von der politischen Spitze, aber zu wenig Differenzierung.“ 95 Prozent der Bürger hielten sich an die Regeln. Gehindert werden müssten diejenigen, „die immer noch mit mehreren hundert Familienmitgliedern Hochzeiten feiern“.

Allerdings ist die Ausbreitung des Virus vielerorts gerade nicht mehr auf einzelne Ereignisse zurückzuverfolgen. Für Berlin etwa hatte Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) gesagt, bei rund 90 Prozent der Neuinfektionen sei die Quelle nicht eindeutig festzustellen, es gebe eine sehr breite Streuung.

Über die angemessene Tonlage in der Diskussion ist sich selbst die Ärzteschaft nicht einig. Der Vizechef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Stephan Hofmeister, warnte vor Angstmache: „Wir glauben, dass etwas mehr Ruhe und Sachlichkeit und etwas weniger Bedrohlichkeit vielleicht helfen könnten, die nächsten eineinhalb Jahre auch noch zu überstehen“, sagte er der dpa.

Dagegen hält die Chefin der Ärztegewerkschaft Marburger Bund, Susanne Johna, die Warnung von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) vor einem Kontrollverlust für berechtigt. „Es ist richtig, ein klares Lagebild zu zeichnen und auf Konsequenzen hinzuweisen, sollte sich der aktuelle Trend fortsetzen“, sagte sie der „Passauer Neuen Presse“.

(dpa)