Staatskunst: Der Durchbruch in der Jagdhütte im Kaukasus
In den entscheidenden Momenten diktierte Kohl das Tempo der Veränderungen.
Düsseldorf. Nicht immer haben historische Weichenstellungen auch Bilder. Die entscheidende Weggabelung zur deutschen Einheit allerdings hat ein solches Foto: Ein Holzblock in einer kaukasischen Jagdhütte nahe Stavropol, davor in legerer Freizeitkleidung sitzend der sowjetische Präsident Gorbatschow und Bundeskanzler Kohl.
"Strickjacke trifft Pullover" titelten die Zeitungen damals. Und am Ende des Tages war der entscheidende Schritt zur deutschen Einheit getan.
An diesem 16. Juli 1990, einem Sonntag, war Kohl nach Moskau geflogen. In Vier-Augen-Gesprächen mit Gorbatschow sollte der letzte Streitpunkt, die Bündniszugehörigkeit Deutschlands, geklärt werden. Moskau bestand auf Neutralität, Washington forderte Nato-Zugehörigkeit und eine weitere US-Militärpräsenz. Am Nachmittag flogen Kohl und Gorbatschow in den Kaukasus und fanden in der Jagdhütte die Lösung: Ergebnis war die "Gemeinsame Erklärung" über die "volle und uneingeschränkte Souveränität" Deutschlands, was die freie Wahl der Bündniszugehörigkeit einschloss.
Erleichtert wurde Moskau die Zustimmung durch deutsche Milliarden-Zahlungen, die der innenpolitisch angeschlagene Gorbatschow dringend brauchte. Zusätzlich konnte Gorbatschow seine Kritiker mit dem Versprechen des US-Außenministers James Baker beruhigen, die USA würden auf eine Osterweiterung der Nato verzichten. Ein Versprechen, das Washington allerdings bei nächstbester Gelegenheit brach.
Zu diesem Zeitpunkt hatte Kohl längst das Heft des Handelns in der Hand. Völlig überraschend und ohne Absprache mit den USA und seinem Koalitionspartner FDP hatte der Kanzler schon am 28. November 1989 - kurz nach dem Mauerfall - vor dem Bundestag sein "Zehn-Punkte-Programm zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas" verkündet.
Vor allem im Osten entwickelte das eine Dynamik, in deren Folge sich die Gewichte dramatisch verschoben: Nicht Moskau und Washington, nicht Gorbatschow und Bush und schon gar nicht die eine Wiedervereinigung ablehnenden Mitterrand und Thatcher, sondern Kohl diktierte hinfort das Tempo. Das ist die bleibende historische Leistung Kohls. Er hat den "Mantel der Geschichte" gespürt und die Einheit zu seinen Bedingungen durchgesetzt.
Ein Stück Staatskunst, das auch seine Gegner anerkennen. Es mag richtig sein, dass die Einheit 1990 Kohl die schon verlorene Kanzlerschaft rettete. Aber es war nicht allein das Glück, im historischen Moment an verantwortlicher Stelle zu stehen. "Wichtig war, dann auch im entscheidenden Moment das Richtige zu tun", urteilt im Rückblick Helmut Schmidt, fast ein halbes Jahrhundert einer der schärfsten Kritiker Kohls. Und die deutsche Einheit, so Schmidt, habe Kohl "glänzend gelöst".
Der damals heftige Streit darüber, ob die wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen der Vereinigung vermeidbar gewesen wären, beschäftigt inzwischen fast nur noch die Fachliteratur. Helmut Kohl ist und bleibt der "Kanzler der Einheit".